Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Der Raum sah aus, als wäre in ihm schon seit Jahren weder etwas aufgeräumt, geschweige denn angefasst, worden. Die Ausstellungs- und Werkmöbel waren zusammengestellt und teilweise mit Tüchern, auf denen sich eine dicke Staubschicht abgesetzt hatte, abgedeckt. Gar das alte Ladenschild der Schusterei stand noch in dem verlassenen Geschäftslokal an eine Wand gelehnt, in verblassten und wohl aufgepinselten Lettern war das Gründungsjahr 1909 zu erkennen. „Wir sind in einem Grab gelandet“, krächzte Cynthia mit heiserer Stimme, während sie auf den hölzernen Dielen sass, den Rücken an die Ladentheke gelehnt. Ihre khakifarbene Jacke war an einigen Stellen frisch aufgerissen und das Innenfutter schaute heraus wie die Innereien eines schwer verwundeten Tieres.
„Was hast du denn erwartet?“, fragte Josh rhetorisch während er seinen kaum noch blutenden Arm hielt. Der Treffer hatte auch dem Ärmel seines Pullovers arg zugesetzt. „Es ist ja nicht so, als ob wir noch gross eine Wahl gehabt hätten.“
Sie zuckte etwas abwesend mit den Schultern, bevor sie die Ladung ihrer 9mm-Pistole prüfte. „Ich habe noch zwei Schuss, wie sieht’s bei dir aus?“
Josh zog seine Waffe mit dem unverletzten Arm aus dem Hosenbund und erklärte dann: „Drei.“
„Wie lange haben wir wohl noch?“, murmelte sich Cynthia und warf einen besorgten Blick auf die geschlossene Tür, über der eine alte Glocke baumelte, welche unangenehm laut geklingelt hatte, bevor sie eingetreten waren.
„Neun Monate, vielleicht auch nur sechs, das weisst du doch“, entgegnete Josh grimmig und trat gegen eine Schneiderpuppe, die bedeckt mit einem alten Wachsmantel neben dem mit Pappe verdeckten Schaufenster stand. Sie geriet ins Wanken und fiel schliesslich mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden, eine Staubwolke aufwirbelnd.
„Du weisst, was ich meine“, murmelte Cynthia. „Ich spreche nicht davon, was wäre, sondern was jetzt ist.“ Sie schwieg kurz und wog dabei bedächtig die Waffe, die sich in ihren Händen kalt und schwer anfühlte. „Es wird sicher nicht mehr lange dauern, das sind Profis.“
„Wahrscheinlich hast du da Recht“, stimmte er zu und erschauderte, als er ein leises Knacken unter der Schuhsole hören konnte. Er beugte sich hinunter, um in dem Zwielicht besser sehen zu können. „Ich bin auf einen Distanzhalter getreten.“
Cynthia lachte unvermittelt, beinahe schon hysterisch: „Was, hat hier einer versucht IKEA-Möbel zusammenzubauen?“
„Sag mal, spinnst du?“, fuhr Josh sie ungehalten an, doch sie konnte einfach nicht aufhören zu lachen und brachte prustend hervor: „Ist doch wahr, ich habe die Dinger immer mit einzubauen vergessen und dann sind die Regale auseinandergekracht.“
„Dafür gibt es doch eine Anleitung?“, fragte Josh, der über den mehr als nur absurden Themenwechsel verwirrt war.
„Für sowas bin ich viel zu stolz gewesen, weisst du“, erklärte sie noch immer mit einem leisen Grinsen auf dem Gesicht, das wie ein letztes Nachschimmern der Lachsalven wirkte. „Ich musste immer allen beweisen, dass ich es auch ohne den dummen Wisch kapierte.“
„Ist Möbel aufzubauen nicht ein etwas unpassender Grund dafür, sich mit Ambitionen in Probleme zu stürzen?“, erkundigte er sich und musste sich eingestehen, dass er über die Ablenkung mehr als nur froh war. Dies würden ziemlich sicher ihre letzten Minuten sein und er wollte sie nicht mehr damit verbringen, darüber nachzugrübeln, ob sie sich richtig entscheiden hatten, dafür wäre es nun ohnehin zu spät.
„Wahrscheinlich hast du Recht“, erwiderte Cynthia nun nachdenklicher, bevor sie hinzufügte: „Weisst du, ich war schon immer ein verdammter Dickschädel. Alles muss genauso gehen, wie ich es will, so war es mit meiner Karriere, mit meinem Leben und das wird es auch mit meinem Tod sein.“
„Wir kennen uns zwar erst seit ein paar Monaten, aber das habe ich schon damals begriffen, als ich dich im Spital das erste Mal gesehen habe“, entgegnete Josh amüsiert. „Immer mit dem Kopf durch die Wand.“
„Du bist nicht viel anders, sonst wärst du nicht hier“, wandte Cynthia ein. „Auch du wolltest die Krankheit nicht siegen lassen, ihr nicht die Macht geben, über dein Leben zu entscheiden.“
„Wer schliesst denn heutzutage noch einen solchen Pakt?“, fragte er mehr an sich selbst, denn an seine gute Freundin gerichtet, während er seine Waffe betrachtete. „Wer trifft sich schon, nur um zusammen zu sterben?“
„Na, wir“, erwiderte sie. „Vielleicht sind wir einfach nur kindisch oder etwas verrückt.“
„Hast du denn keine Angst?“, wollte Josh wissen. Ihm war bei der Sache nicht besonders wohl, doch auf die paar Wochen oder Monate würde es wohl nun auch nicht mehr ankommen.
„Doch, natürlich“, entgegnete sie. „Aber ich versuche es als Abenteuer zu sehen, als einen letzten Deathmatch.“
„Mit vier angeheuerten Killern aus Downtown, die Automatikwaffen tragen, als das rote Team?“, stellte Josh nun grinsend fest. Als Gamer entging ihm Cynthias Witz nicht und auch wenn ihm nicht zum Scherzen zumute war, etwas Besseres fiel ihm nicht ein und offenbar konnten sie jetzt, da es an der Zeit war, nicht mehr damit aufhören. Sie zuckte mit den Schultern und meinte: „Vielleicht hätten wir ihnen sagen sollen, dass wir zurückschiessen.“
„Das sind Strassengangster, die sind sich den einen oder anderen Treffer gewohnt“, murmelte er und sah sich in der alten Schusterei um. „Ausserdem ist denen noch nicht klar, dass sie ihre Auftraggeber ermorden sollen.“
Cynthia musterte erneut ihre Waffe, bevor sie fragte: „Wollen wir die Sache zu Ende bringen?“
„Bis du denn bereit?“, erkundigte sich Josh. Er konnte vor seinem geistigen Auge schon die gelben Absperrbänder vor dem verlassenen Haus sehen, die Polizeiautos mit den blinkenden Blaulichtern und die Menschenmasse, die zu sehen versuchte, was in dem unauffälligen Gebäude geschehen sein mochte. Ohne zu zögern erklärte sie: „Ja. Nichts bereuen, nicht zurückblicken.“
Er nickte. „War schön, dich gekannt zu haben. Auf drei?“ Er fühlte sich nicht gut und hatte ein trockenes Gefühl im Mund, doch trotzdem war er grimmig entschlossen, nicht die Polizei zu rufen. Zwar fühlte sich Josh noch nicht bereit zu sterben, doch noch weniger wollte er dies langsam in einem Krankenhausbett tun, mit immer schlimmer werdenden Schmerzen und einem vor lauter Medikamenten vernebelten Verstand. Während er herunterzählte, konnte er das Adrenalin in seinen Adern fühlen, genau wie früher, als er vor dem grossen Bildschirm gesessen hatte, den Controller fest in der Hand, bereit für den nächsten Deathmatch – nur ist diesmal die Entscheidung darüber, welches Team überleb und welches nicht etwas definitiver.