T+00:03 – Andrew ist enttäuscht, ebenso erleichtert, denn der mit albernen Comic-Gesichtern verzierte Löschpapierschnipsel schmeckte bloß nach Papier. Er hatte angenommen, es wäre ähnlich wie Alkaloide, mit denen er bereits einige Erfahrungen gesammelt hatte, bitter. Der ekelhafte Geschmack, welcher ihn auf ewig davon abhalten wird, jemals wieder in einen Amanita Muscaria zu beißen, haftete dem bunten Zettelchen allerdings nicht an. Vielleicht sollte er ein zweites Stückchen unter seine Zunge schieben, denkt er bei sich, nur um sicherzugehen, dass die Dosis ausreicht. Schlussendlich entscheidet er sich jedoch dagegen und besinnt sich stattdessen auf den Hinweis eines längst aus den Augen verlorenen Freundes: Gib Lucy einen Moment, um dich mitzureißen.
T+00:14 – Außer leichtem Kribbeln an den Fußsohlen kann Andrew nichts Außergewöhnliches fühlen, weder Schwindel noch Unbehagen künden das über Neuronenbahnen heranrasende Abenteuer an. Der Jahrmarkt-Trubel beginnt langsam etwas abzuebben, das Rufen der Schausteller und die Technomusik, die durch zahlreiche Lautsprecher plärrt, nimmt in seiner Wahrnehmung klarere Formen an, jetzt, da das Stimmengewirr der Besucher leiser geworden ist. Ruhig steht Andrew auf, mustert eine Weile die flackernden Kugellichter des Scooter-Fahrgeschäfts und marschiert dann zügig davon.
T+00:23 – Rechtzeitig entdeckt er am Rande des Geländes den kleinen Wiesenabschnitt, der neben dem üblichen Volksfestmüll verwaist wirkt. Maike hatte vorhin am Telefon gemeint, sie wäre in drei Minuten dort, um ihn zu treffen und die Heimreise anzutreten. Das Gespräch ist nun sieben Minuten her, lange genug, sodass sie ebenfalls hierhingefunden haben müsste, zu kurz, um ihren Geduldsfaden bersten zu lassen, trotzdem sieht er sie nirgends. Sein Hinterkopf wird allmählich etwas schwer, das Kribbeln breitet sich aus und kann in den Eingeweiden leicht mit Übelkeit verwechselt werden. Dennoch positiv gestimmt lehnt Andrew sich an einen schnörkelreichen Zaun aus Schmiedeeisen, grinst so sehr, bis seine Kaumuskulatur neben den Ohren spannt. Beiläufig registriert er, wie er seinem Körper allmählich entschwindet.
T+00:35 – Der Mond wabert friedlich zwischen Wolken und Klarheit hin und her, spinnt silbern leuchtende Zirrus-Fransen, während Andrew ihn lächelnd betrachtet, die Beine spielerisch im Zaun verknotet, im Rücken das Rauschen der Straße. Seine Gedanken hängen an dünnen Drähten an der Realität, deuten das schaurig-wohlige Pulsieren an seinem Oberschenkel richtig und bewegen ihn dazu, das Handy aus der Tasche zu ziehen. Durch seinen blonden Wimpernkranz blinzelt Andrew auf das Display und freut sich sogleich.
„Maike“, beginnt er stockend, „wie schön.“
„Wo steckst du, Drew?“ Ihre Stimme erschreckt die flirrenden Punkte, die hinter seinen Augen wohnen, sie huschen beiseite, verstecken sich im Nacken. „Drew, hast du es schon genommen? Drew?!“ Die ängstlichen Worte vertragen sich nicht mit dem sorglosen Wolkenspiel des Mondes, also lässt er das Handy fallen. Er kichert, als es hinter der Abzäunung zerschellt, die SIM-Karte heraushüpft und durch dicke Gitter ins Wasser fällt.
T+00:42 – Maike kam geduckt auf ihn zu, danach verwandelte sie sich in schillernd-singende Blasen, kitzelte ihn mit sanften Stößen. „Komm“, wispert sie farbenfroh und nimmt ihn bei der Hand. Andrew folgt ihr, denn er weiß, ihr zu folgen ist wichtig, Maike wird ihn ins Universum führen. „Lass nicht los.“ Niemals will er loslassen, niemals. Der warme Boden windet sich unter seinen federleichten Schritten, mit ihm kräuselt sich das Gras `gen Himmel, symmetrisch, organisch, schlicht zutiefst lebendig. „Maike“, glaubt er sacht zu klingen, grunzt hingegen unerhört. „Maike, ich kann die Traurigkeit tanzen sehen.“
T+01:01 – Ein Reiter taucht auf, reißt wundervolle Löcher in die Zeit und schlüpft hinweg. Andrew stellt die Frage, die ihn seit Äonen quält, zugleich bereichert, die eine, der jeder bereits begegnet ist. Trickreich täuscht sie Intellekt wie Gefühl, verzückt bodenlose wie seichte Gewässer. „Ist das real?“
Maike umschließt ihn ganz, hüllt seine Existenz in Honig. „Wer weiß.“
T+01:31 – Astronauten haben die Wolkendecke zu gleißenden Quadraten gefaltet und ihm das Geheimnis der Erde anvertraut. Sie ist kugelrund und verkennt den Hass der Menschen, genauso wie Andrew, dessen Geist drei Leben auf einmal erfährt, erkundet, umrundet.
T+01:35 – Descartes hat sich geirrt, Ratio herrscht nie alleine im Kopfmultiversum, er braucht seine Schwester, um seinem Wirten Frieden zu schenken. Andrew versteht, was nicht verstanden werden kann, es schwellt im Feuer des Lichterregens zum Ausdruck heran, nur aus ihm ausbrechen kann es nicht.
T+01:42 – „Möchtest du etwas, Drew?“ Es ist Maike, die hinter einem fremden Antlitz, dem einer eisblau-schwarzen Chimärenkatze, durch ihn hindurch säuselt. Andrew spricht Bände, erzählt vom Zusammenhang, den Atomen, Neutronen, Protonen und Elektronen, die stets alles fest verbinden, unzertrennbar verweben, ausgleichen, nein, gleichsetzen. Aus seinem Mund sickert bloß unendlich dankbares Lächeln und sie gibt ihm einen Becher mit Wasser. Wasser, das er schon immer war.
T+02:18 – Kleine Echsen versammeln sich in der Nähe, suchen nach Geborgenheit im grellen Schein der Pfützen. „Kommt her“, verkündet Andrew mit offenen Armen, deren Grenzen irgendwann aufgehört haben zu sein. Fließend driften sie mitsamt allem anderen in den Strom aus reiner Energie. „Kommt her, ich werde euch lieben! Ganz und gar.“ Die Echsen schauen skeptisch, zischen auseinander und verkommen für einen winzigen Augenblick zu Menschen im eklektischen Dimmlicht des Jahrmarkts.
„Drew, du darfst die Leute nicht ärgern!“
T+02:50 – Die Zeit hat Beschleunigung beschlossen, also tut Andrew es ihr gleich und fliegt ihr hinterher. Alles schlängelt um ihn herum, Risse dehnen sich, sprießen in Ranken empor und er kann mit Leichtigkeit im Gleichtakt mit dem Fundament des Lebens atmen.
„Setzt dich bitte.“ Heißes Fleisch zerrt ihn auf den Grund, er will nicht bleiben, doch die Materie siegt, er wird zur Erdung gezwungen. Ein letztes Mal, wie er hofft. „Dein Puls rast ja, du schwitzt! Drew, sag mir wie du dich fühlst.“
„Vollkommen!“
T+02:59 – Schwermut vermischt sich mit Optimismus, als Andrew die Präsenz der Maße verspürt, deren bestes Bestreben das Vermeiden von Kollateralschaden sein kann. Würden sie nur begreifen, ihr Spiegelbild als das Wunder erkennen, das es sein kann, dem Frieden wäre keine Hürde zu hoch, überwände man sie gemeinsam.
„Es wird kalt, wir sollten aufbrechen.“ Wer sie ist weiß er nicht, aber die zarten Hügel ihrer schimmernden Haut saugen alle Trauer auf, absorbieren sie. Liebe zuckt, wartet auf den Sprung, denn sie macht selbst den Schmerz der Welt zum Denkmal der Freude, die einst war, sein wird und unzerstörbar besteht. „Wahrscheinlich ist es sowieso besser. Dein Trip wird bald richtig losgehen. Kommst du mit?“
T+03:42 – Er stürzt in den Kern, wird von samtig-lockerem Wind gefangen und schließt die Lider, um zu sehen, im Diamantenspektrum zu wirbeln. Da, ganz plötzlich, freilich erwartet, schmilzt sein Wesen und sein Herz zerspringt in ungetrübtes Glück.