Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Von Fäulnis zerfressene Körper“, hallten die Worte durch ihren Kopf, während sie über den in der Nacht kaum erkennbaren Wanderweg rannte. Das Seitenstechen war grauenhaft, unerträglich, doch sie versuchte es zu ignorieren und keuchte, das einzige Geräusch, das nebst ihren Schritten auf dem festgetretenen Kies zu vernehmen war. „Nichts, was du nicht sowieso schon kennst.“ Eine vage Erinnerung an ihre Jugend zuckte vor ihrem geistigen Auge vorbei, aum mehr als ein Sekundenbruchteil. Aus dem Wohnzimmer ihres Elternhauses waren gedämpft Gelächter und klassische Musik zu vernehmen, als sie durch den Gang schlich, es schien eine der vielen Frauenpartys ihrer Mutter zu sein, bei der sich alle betranken und über irgendwelche Prominenten lachten. Sie fuhr zusammen, als nur wenige Meter vor ihr ein aufgescheuchtes Eichhörnchen panisch den Pfad überquerte und raschelnd im Dickicht verschwand. „Diesmal werden alle sterben“, fuhr ihre Gedankenstimme fort.
Die kleine Wandergruppe schritt gemächlich den Wanderweg hoch, immer weiter in Richtung der Alphütte. Die fünf Jugendlichen hatten sich auf ihrem Gymnasium kennen gelernt, als sie gemeinsam für die Aufführung einer denkbar schlechten Interpretation des Musicals Cats geprobt hatten. Das resultierende Katzenkonzert war von der Schülerzeitung höflich gelobt worden, doch alle auf der Schule wussten, dass diese Aufführung ein Reinfall, ja gar ein Desaster, gewesen war. Doch das spielte jetzt keine Rolle mehr, denn dank dem grauenhaften Katzenchor hatten sich die fünf Freunde kennen gelernt und waren nun auf einer ihrer ausgedehnten Wanderungen, die sie jedes Mal in ihren Sommerferien machten. Stefan und Tino, das dynamische Duo der künftigen Mathematikstudenten, gingen voraus. Ihnen folgte Rebekka, die mit ziemlicher Sicherheit Psychologin werden würde, zumindest war das ihr Kindheitstraum. Manu, der Englisch als Schwerpunktfach belegt hatte und nie zu wissen schien, was er aus seinem Leben machen wollte, ging neben ihr her; die beiden hatten etwas miteinander und versuchten sinnloserweise diskret zu tun, obwohl mittlerweile die ganze Schule von ihrer Beziehung wusste. Zu guter Letzt folgte Zoë, von der niemand so genau wusste, was ihre Pläne waren. „Schaut mal“, rief Tino aus und deutete mit seinem Wanderstock nach oben. Weit über ihnen, vor der Steilwand der Fluh, drehte ein Adler majestätisch seine Kreise. „Hier draußen ist es wunderbar ruhig, keine Menschen…“
„Ja, hier draußen hört dich niemand schreien“, unterbrach der immer mit Filmzitaten und Anspielungen um sich werfende Stefan ihn lachend.
Verängstigt hastete sie weiter, sie musste dem Grauen entkommen, musste schneller sein als… Nein, daran wollte sie nicht denken. Ihre Faust verkrampfte sich um die Glasperle in ihrer Hand, die sie fest umklammert hielt, so als wäre sie alles, was noch geblieben war. Sie war einfach so am Eingang der Alphütte auf dem Dielenboden gewesen, ohne ersichtlichen Grund. Die Zwölfjährige tappte sich ängstlich weiter vor, ja keinen Laut machen, nicht dass sie ihren Vater wecken würde, doch sie musste unbedingt aufs Klo. Sie konnte einen Schmerz an ihren Füssen spüren, irgendwo war sie draufgetreten. Sie bückte sich und hob die Glasperle auf, die vor der Zimmertür ihrer kleinen Schwester auf dem Boden lag.
Die junge Frau rannte keuchend an einer alten, zerfallenden Scheune vorbei und dachte wieder an die im Dunkeln lauernden Schatten und die pampige Maße, die wie Hackfleisch aussah und vor der sie wusste, dass sie nicht eine Zutat für Hamburger gewesen war. Sie konnte das Pochen ihres Herzens in den Schläfen fühlen, sie hatte grausamen Durst und ihr war schwindlig, doch sie wollte, nein durfte, nicht aufgeben. Erschrocken stieß sie einen unterdrückten Schrei aus, als sie mit ihrem Fuß an einer von der Scheune heruntergefallenen rostigen Regenrinne hängenblieb und der Länge nach auf den Wanderweg stürzte.
Die fünf konnten vor sich schon die verlassene Alphütte sehen, die Rebekkas Eltern gehörte. Hier würden sie die nächsten Tage verbringen, weitab von jeglicher Zivilisation. Der Wind rauschte leise in den Fichtenwäldern, die unter ihnen im Tal lagen und im hohen Gras, das hier oben karger und wilder wirkte. Ein schönes Plätzchen, oder?“, fragte Rebekka freudig, die froh wirkte, endlich anzukommen.
„Beschaulich und romantisch“, entgegnete Manu und warf ihr einen verschwörerischen Blick zu, von dem er zu glauben schien, dass nur sie ihn sehen konnte. Zoë verdrehte theatralisch die Augen, sah demonstrativ weg und murmelte leise: „Na super, Liebesgesülze“, während Stefan und Tino offenbar etwas über die Natur diskutierten, denn eben war letzterer zu vernehmen: „…wir sind also schon fast über der Baumgrenze, so knapp am oberen Rand. Hier wächst nicht mehr besonders viel Großes.“
„Becci, wieso hast du eigentlich einen Ghettoblaster dabei?“, wollte Manu wissen und nickte in Richtung des Geräts, das sie sich an den Rucksack geschnallt hatte. Sie lachte. „Na, so können wir Party machen, da oben gibt’s ja keinen Strom. Stef und Tino tragen ja den ganzen Wodka, da habe ich mir gedacht, etwas Stimmung kann nicht schaden.“
„Endlich Ferien“, rief Manu zufrieden aus, als sie die alte Blockhütte erreichten.
Sie lag reglos auf dem Boden und konnte das Blut an ihren Unterarmen fühlen, da wo sie sich beim Hinfallen geschürft hatte. Ihre Atmung war unruhig und weil sie Angst hatte, jemand würde ihr erschöpftes Schnaufen hören können, hielt sie sich die zitternde Hand vor den Mund. Sie wusste nicht wie viel des Weges zum Tal sie schon geschafft hatte; vielleicht ein Drittel? In diesem Tempo würde sie es trotz dem Adrenalin in ihren Adern und den grausamen Bildern in ihrem Kopf niemals schaffen, sie musste kurz verschnaufen, ob sie wollte oder nicht. Für einen Augenblick hielt sie den Atem an und lauschte. Nur der Wind in den Bäumen war zu hören und der Ruf eines Uhus. „Nicht Irene!“, konnte sie sich selbst rufen hören und stieß die Schlafzimmertür auf. In dieser Nacht hatte ihr Vater ihr erklärt, dass er sie und Irene umbringen würde, wenn sie jemals jemandem davon erzählte. Dass sie dann nur noch von Fäulnis zerfressene Körper sein würden, wertloses Hackfleisch. Und sie hatte geschwiegen. Erschöpft atmete sie aus, vielleicht verfolgte er sie gar nicht mehr. Nein, er konnte sie nicht mehr verfolgen, niemand konnte das noch! Ihre blutverschmierte Hand entkrampfte sich und die Glasperle, welche sie gehalten hatte, rollte davon.
Aus dem Wohnzimmer waren gedämpft Gelächter und Indie-Rockmusik zu hören, als Zoë durch den Gang tapste. Sie war müde und wollte nur schlafen, doch der Partylärm hielt sie wach. Sie wollte etwas vor die Alphütte hinaustreten und frische Luft schnappen, als sie plötzlich in der Bewegung innehielt und ungläubig auf die am Boden liegende Glasperle starrte. Bedächtig, schon fast ehrfürchtig hob sie das Kleinod auf und betrachtete es. Eine zweite Chance – sie würde nicht mehr schweigen müssen. Entschlossenen Schrittes ging sie in die Küche und zog ein Fleischermesser aus dem Messerblock.