„Ah!“, stöhnte Angela langgezogen und grinste erst einmal ausgiebig, ehe sie den pinken Leuchtstift aus ihrem Etui fischte. Wieso sie nicht früher auf die fantastische Idee gekommen war, den Heizungsraum für sich zu beanspruchen, war ihr ein Rätsel, denn alles hier war einfach absolut und vollkommen perfekt: Es war angenehm warm, man hatte genügend Platz um eine Sammlung von Fachbüchern, Notizheften und Zetteln auf dem Boden auszubreiten und vor allem war weit und breit keiner ihrer Mitbewohner zu sehen.
Den Drang ignorierend, willkürlich auf Videos zu klicken, die tollpatschige Hundebabys versprachen, scrollte Angela durch ihre Favoriten-Playliste und wählte dann einen leisen Pianosong. Das Stück war gerade monoton genug, dass es sie nicht zum Hin- und Herwippen brächte und hatte keinen Text, den sie früher oder später sowieso mitsingen würde. Nachdem sie einmal mehr den Fehler gemacht hatte, die Schutzhülle ihres Tablets zuzuklappen, wodurch die Youtube-Wiedergabe gestoppt wurde, legte sie das Gerät vorsichtig neben sich auf den Boden.
„Gut, wo war ich?“, murmelte sie gedankenverloren, währendem sie ihr Lieblingskissen, das sie von ihrer Mutter zum Studienbeginn bekommen hatte, mit einigen gezielten Hinternwacklern zurechtrückte. Auf dem dunkelblauen Stoff, der passend zum Sofabezug ausgewählt worden war, funkelten einige Sternpailletten und in der unteren Ecke war winzig klein ihr Lieblingszitat gestickt: „To boldly go where no one has gone before!“
Angelas Mutter hatte schon immer ein Hang für Schabernack-Dramatik, wie sie es nannte, gehabt und so war es eigentlich selbstverständlich, dass ihre Tochter, die als erste in der Familie studierte, ein ebenso dramatisch-neckisches Geschenk bekommen hatte, obwohl die Mutter noch nie im Leben Star Trek gesehen hatte. Thomas, einer ihrer vier Mitbewohner, fand das dermaßen toll, dass er Frau Meischner bei ihrem letzten Besuch mit den Worten „Gnädige Dame, Sie müssen mich adoptieren!“ begrüßt und dann versucht hatte, sie zu überzeugen, auf der Enterprise anzuheuern. Sehr zum Amüsement von Angela, die wusste, dass ihre Mutter keinen blassen Dunst hatte, wovon der langhaarige Kiffer überhaupt sprach.
„Nein!“ Angela schüttelte heftig den Kopf und kritzelte plötzlich ganz eifrig mit ihrem Leuchtstift über eine kurze Textpassage. „Ich darf mich nicht schon wieder ablenken lassen!“
Das konnte man in der Tat ohne Wenn und Aber so sagen, denn übermorgen schon würde sie zum Test antanzen müssen und bisher war ihr Lernpensum doch eher überschaubar geblieben. Aber es war auch so verdammt schwierig, sich auf den Stoff konzentrieren zu können, wenn hinter jeder Ecke eine Ablenkung lauerte. So zum Beispiel gestern, als sie es sich mit einer Tasse Tee und ihren Büchern gemütlich gemacht hatte und Franziska anfing, in der Küche Musicalsongs zum Besten zu geben. Angela hatte eine Weile durchgehalten, aber irgendwann hatte sich die Melodie zu „Memories“ so sehr in ihre Gehirnwindungen gefressen, dass sie an nichts anderes mehr hatte denken können. Nun ja, immerhin konnte sie sich jetzt damit trösten, dass sie für die nächsten Wochen genügend Spagetti-Sauce übrig hatten und außerdem war das Tomatenwettschneiden mit Franziska saulustig gewesen.
„Carboxylgruppe!“, schrie Angela durch den staubigen Heizungsraum, um sich endlich zum Lernen zu zwingen. Jetzt war sie extra hier runter gekommen, in der Hoffnung, hier Sicherheit vor all den kurzweiligen Zerstreuungen zu finden, also gab es auch keine Ausreden mehr.
„Komm schon, Angela, mach vorwärts“, legte sie eine weitere Motivations-Phrase hinterher, diese prallte jedoch wirkungslos an dem Warmwasserboiler ab, dessen Bedienungsanleitung so verlockend an einer Schnur baumelte. Nur ganz kurz wollte sie in Erfahrung bringen, wie das Ding funktionierte und wozu das grüne Rädchen auf der linken Seite da war. Es wäre doch einfach zu lustig, erwog sie leise kichernd, die Warmwasserleitung zu kappen, wenn Niklaus unter der Dusche steht. Dieser Vollarsch hatte ihr nämlich neulich erst den Weg von ihrem Zimmer zur Küche mit Klopapierrollen versperrt, die sie danach noch vor ihrem Morgenkaffee hatte aufräumen müssen. „Rache wird am besten eiskalt serviert, Schätzchen“, grollte ihre zarte Stimme, doch ehe sie ihr bestes Bösewicht-Lachen husten konnte, klatschte sie mit der flachen Hand vor ihre Stirn.
„Himmel!“ Augenblicklich kroch das Stressgefühl in ihre Magengrube zurück und erinnerte sie schmerzlich an den Termin am übernächsten Tag. „Ich muss jetzt lernen!“
Entschlossen blätterte Angela in einem ihrer Chemiebücher und stellte mit einem wohlen Grummeln fest, dass sich ihre Innereien langsam entknoteten. Je länger sie es schaffte, einen Absatz nach dem nächsten zu studieren und je mehr Notizen sich auf den Seiten ihres abgegriffenen Heftes ansammelten, desto entspannter wurde sie.
„Jetzt darf ich bloß nicht schon wieder in dieselbe Grube tappen …“, ermahnte sich Angela still. Zu oft war es ihr schon passiert, dass sie sich von ihrer eigenen, eingebildeten Effizienz hatte darüber hinwegtäuschen lassen, wie viel eigentlich noch zu tun war. Sie durfte jetzt auf gar keinen Fall nachlassen, soviel war klar, aber es ließ sich nun eben auch nicht leugnen, dass man nur mit regelmäßigen Pausen gut arbeiten konnte.
Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte Angela von der vollgeschriebenen Seite zu ihrem Tablet und wieder zurück und sagte dann zu sich selbst: „Also gut, ein einziges Video.“
„Wie blöd bin ich eigentlich?“ Angelas Frage war längst nicht mehr als rhetorisch zu verstehen. Früher hatte sie diese Überlegung noch scherzhaft angestellt, damals, als sie sich noch sicher gewesen war, dass sie nicht dumm, sondern lediglich etwas zu empfänglich für Ablenkungen war. Doch nachdem sie beim achten Youtube-Video angekommen war und sich völlig desinteressiert ansah, wie eine junge Frau ihr Gesicht mit Kosmetika bepinselte, bestand für sie kein Zweifel mehr. „Ich bin so ein dämliches Arschloch!“
Wütend über sich selbst und die moderne Welt mit all ihren unterhaltsamen Nebensächlichkeiten, richtete Angela sich auf und nahm zwei große Schritte zur Tür des Heizungsraums. Sie klappte die Schutzhülle zu, legte das Gerät des Untergangs in sicherer Entfernung auf den Trockner und marschierte dann fauchend an ihren Platz zurück.
„So!“, schnaubte sie selbstzufrieden und widmete sich schließlich den Aminosäuren.
„Ich kann nicht“, erklärte Angela ihrem Mitbewohner, der sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen lehnte. Sie hatte das Klingeln gehört, sich aber trotz ihrer wachsenden Neugier darüber, wer denn heute zu Besuch gekommen war, nicht von der Stelle gerührt und tapfer weitergelesen.
„Wieso?“ Thomas hatte eine ruhige, subtile Art, andere dazu zu bringen, genau das zu tun, was er wollte. Er sagte nicht viel, gab einem jedoch klar zu verstehen, dass seine Ideen stets die besten waren und man einen großen Fehler machte, wenn man sich nicht dafür begeistern konnte. Und das sogar dann, wenn seine Pläne alles andere als vernünftig waren.
„Weil ich lernen muss, du Idiot“, erwiderte Angela und wedelte nachdrücklich mit ihrem Notizheft. Thomas war ganz offensichtlich nicht beeindruckt davon und zischte spöttisch.
„Das ist ja mal wieder typisch für dich.“ In ihren Gedanken stand Angela auf, rauschte die Treppe hoch, zwackte einen Ast von der Haselstaude beim Hauseingang und rannte damit zurück zu Thomas, um ihm damit den Hintern zu versohlen. In einer anderen Situation hätte sie das eventuell sogar getan, aber heute meinte sie stattdessen nur entnervt: „Was soll das heißen?“
„Naja, du weißt seit gut drei Monaten von der Prüfung und lernst erst jetzt und das obwohl dich dein Mangel an Disziplin schon mehrmals geleimt hat.“ Sein lapidares Argument traf Angela so hart, dass sie sogleich begann, die üblichen Ausreden herunterzuleiern; sonderlich schwer fiel ihr das nicht, immerhin war sie mittlerweile geübt darin.
„Und zu guter Letzt“, summierte sie ihre Begründung, „ist es eh unsinnig zu lernen, wenn man sich nicht konzentrieren kann.“
„Ach, verdammt!“ Angela hatte längst den Überblick über all die Zettel verloren und starrte mit leerem Blick auf die verstreuten Papierstücke. Seit Thomas sich mehr oder weniger wortlos zurückgezogen hatte, brachte sie überhaupt nichts mehr zu Stande. Es war beinahe so, als hätte der Trottel sie mit seinen sarkastischen Kommentaren zu ihren Ausflüchten verhext. Es stimmt doch, versuchte Angela ihre Ansicht zu bestätigen, es hat überhaupt keinen Wert, sich zum Lernen zu zwingen, wenn man nicht einmal drei Sekunden aufmerksam bleiben kann.
„Mir reicht es“, holte sie resigniert aus und fuhr sich dabei mit der Handfläche übers Gesicht, „ich brauche jetzt etwas Essbares.“ Damit war die Sache beschlossen, sie räumte ihre Zettel, Hefte und Bücher zusammen und nahm sich mit der wenigen Überzeugung, die ihr noch geblieben war vor, gleich nach dem Abendessen weiterzumachen. Okay, vielleicht würde sie noch die neuste Folge der Simpsons streamen und je nachdem, ob Franziska Zeit für einen gemeinsamen Kaffee hatte oder nicht, könnte sie eigentlich noch schnell einen kleinen Spaziergang machen. Aber spätestens um halb zehn würde sie büffeln … Oder halb elf.