Halloween-Special | Drei

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Der Morgen war ruhig verlaufen, es hatte nur wenige Anrufe gegeben und Christine hatte frei, sodass Emil von ihren Lästereien verschont blieb. Er streckte sich ausgiebig und gab sich keinerlei Mühe, das Gähnen zu unterdrücken, immerhin war bis am Nachmittag niemand da, der ihn dafür hätte rügen können. Ein klein wenig langweilig war es aber doch geworden und als die kleine Zeitanzeige auf seinem Computerbildschirm endlich eine Pause genehmigte, schob er sich schwungvoll mit ihrem Bürostuhl vom Tisch weg. „Endlich“, murmelte der großgewachsene Mann zu sich selbst, „Kaffeepause!“
Auf dem Weg in den Pausenraum fiel ihm das dumpfe Knirschen seiner Anzugschuhe auf dem Teppichboden auf, er hatte es zuvor noch nie bemerkt, denn in den drei Jahren, die er hier bereits arbeitete, war es noch nie so still gewesen. Er konnte auch ein leises Poltern aus den Lüftungsschächten hören und ab und an vernahm er ein Knarren, das sich nicht zuordnen ließ. Auf halber Strecke blieb Emil plötzlich stocksteif stehen und versuchte herauszufinden, woher das Geräusch kam. Erst blickte er abwesend den Flur hinunter, doch irgendetwas alarmierte ihn, machte ihm Gänsehaut, also kniff er seine grauen Augen zusammen und drehte sich ganz achtsam um. Natürlich war da nichts außer den leeren Arbeitsplätzen und seinem Computer, der wie üblich vor sich hinsummte, also schüttelte er den Kopf und ging weiter.
Emil ging wie jeden Vormittag durch die dritte Tür auf der linken Seite, drückte ohne hinzusehen den Schalter der Kaffeemaschine und setzte sich dann auf seinen Lieblingssessel vor dem Fenster. Eine kurze Weile blätterte er lustlos in der Tageszeitung, aber die Einsamkeit und das fehlende Geplapper seiner Arbeitskollegen machte ihn nervös, deswegen machte er das Radio an. „Viel besser!“, seufzte Emil und las den Artikel über eine unsterbliche Qualle zu Ende, bevor er aufstand, um sich endlich seinen wohlverdienten Kaffee zu machen.
Wippend zu einem monotonen Popsong schnappte er sich seine Tasse, doch als er seine Hand ausstreckte und sie unter die Maschine stellen wollte, überkam ihn ein seltsames Gefühl. Etwas stimmte nicht, dachte der Architekt und gleich darauf kam die Gänsehaut wieder. Emil konnte jedes seiner kurzgeschorenen Nackenhaare fühlen, ihm wurde schlecht und dann wich sämtliche Farbe aus seinen gut gealterten Gesichtszügen. Langsam beugte er sich vor und biss sich dabei angespannt auf die Unterlippe. Sein schrecklicher Verdacht verhärtete sich und nachdem er ganz vorsichtig die Tasse auf die Kommode gestellt hatte, so dass er ja keinen Lärm machte, fuhr ihm der pure Schock in die Glieder.
„Mein Gott!“, schrie er erstickt und hielt sich sofort die Hand vor den Mund. „Die Kaffeemaschine ist kaputt!“

Unruhig verlagerte Amelie ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen und ignorierte dabei ihre schmerzenden Fußballen. Sie war es sich gewohnt, den ganzen Tag in High Heels zu verbringen, hatte das neue Paar jedoch noch nicht richtig eingelaufen. Normalerweise hätte sie sich das selbstverständlich nicht angetan, aber für den Fall, dass ihre Sorge unbegründet war, wollte sie nicht unvorbereitet sein und extra hübsch aussehen. Der Sekundenzeiger ihrer teuren Uhr tickte unbarmherzig weiter und schien Löcher in ihre Gedanken zu meisseln. Bald war es viertel nach Sieben und Daniel hatte noch immer nicht angerufen oder auf eine ihrer Nachrichten reagiert.
Vor und neben ihr strömten Passanten ungerührt an ihr vorbei und mit jedem Augenblick, der verstrich, wurde sie zappeliger. Vielleicht, dachte sie, hatte er es rausgefunden und wollte jetzt nichts mehr mit ihr zu tun haben. Theoretisch gesehen könnte es sein, denn Marie wusste von ihrem Geheimnis und auch wenn sie behauptete, sie würde es für sich behalten, war es möglich, dass sie sich verplappert hatte. Amelie blieb ein Kloß im Hals stecken und mit zittrigen Fingern löste sie das kleine Seidenhalstuch, das Daniel ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Sich zur Ruhe zwingend begann die Blonde damit, die letzten Tage Revue passieren zu lassen. Das letzte Mal hatte sie vor drei Tagen mit ihrem Freund gesprochen, da war noch alles in Ordnung gewesen und sie hatten sich für heute zum Abendessen verabredet. Marie hatte sie gerade eben noch gesehen und die hatte ihr nichts von einer Unterhaltung mit Daniel gesagt. Es war also eher unwahrscheinlich, dass er von ihrer letzten Parteiwahl wusste.
Erlöst atmete Amelie aus und lehnte sich an den Pfeiler hinter ihr, doch als ein in Leder gekleideter Junge mit einem dicken Nietengürtel über der Hüfte und einem Rucksack in der Hand an ihr vorbeirannte, war ihr, als würde ihr Herz verrutschen. Daniel hatte sich darüber beschwert, dass er neulich Abend an der Bushaltestelle von einem suspekt aussehenden Typen dumm angemacht worden war. Er hatte ihr davon erzählt, weil er richtig stolz gewesen war, dass er dem Fremden Kontra geboten hatte und natürlich hatte er nicht auf sie hören wollen, als sie ihm deswegen die Leviten gelesen hatte. Was, wenn dieser Typ Daniel nachhause gefolgt war und ihm etwas angetan hatte, folgerte Amelie voreilig und stieß sich aufgeregt vom glatten Granit ab. Egal wie sehr sie sich bemühte, sie konnte die Idee nicht loswerden, dass Daniel etwas passiert war, welchen Grund gäbe es denn sonst, dass er sich so lange nicht mehr bei ihr gemeldet hatte.
Sie begann schwer zu atmen und an ihren aufgerissenen Nagelhäutchen zu zupfen, ehe sie unkoordiniert in ihrer Handtasche wühlte, um das Handy herauszufischen. Währendem sie den Nachrichtenverlauf von ihr und Daniel nach einem Hinweis absuchte, wackelte sie frenetisch mit ihrem Bein, lehnte sich immer wieder an die Säule und stieß sich danach gleich wieder ab. Irgendwann, als die Spannung beinahe unerträglich wurde und Amelie glaubte, sie könnte ihre aufgeriebenen Nerven nicht mehr im Zaum halten, sah sie ihn.
Daniel schlenderte scheinbar gemütlich in ihre Richtung, allerdings konnte sie nicht ausmachen, ob er wütend oder verletzt war, hatte sie doch ihre Brille im Auto gelassen, weil sie ohne besser aussah. Hektisch rannte sie auf ihn zu, umarmte ihn und legte erleichtert ihre Hände auf seine Wangen. „Oh, Daniel, ich hab mir solche Sorgen gemacht!“, begann sie zu schluchzen. Etwas irritiert sah er sie an, legte seine Stirn in Falten und meinte: „Sorry, ich habe mein Handy verloren.“

Zuerst hatte ich es nicht bemerkt, war einfach meiner Beschäftigung nachgegangen, ohne es zu registrieren. Es ist schon komisch, wie einfach es ist, solch einschneidende Veränderungen zu übersehen. Veränderungsblindheit nennt sich das wohl, doch im Prinzip spielt das überhaupt keine Rolle, denn ich war ohnehin verloren. Würde man mich jetzt fragen, ob ich in diese Zeit der naiven Unwissenheit zurückkehren wollte, würde ich ohne zu zögern ja sagen, aber dafür war es schon lange zu spät. Klar, der Gedanke an die Zeit vor dem Zwischenfall war beruhigend und half mir eine Weile darüber hinweg, mit dem Horror klarzukommen. „Alles wird wieder gut, so wie früher“, flüsterte ich zu mir selbst, währendem ich unter dem Esstisch im Wohnzimmer kauerte und der Musik lauschte, die über den Telefonhörer auf mich einrieselte.
Ich hatte eine ganze Reihe von Emotionen durchlebt, seit ich es entdeckt hatte. Nach der ersten Verwirrung und dem Versuch, die Situation zu verleugnen, kam das blanke, unbändige Entsetzen. Innert Bruchteilen von Sekunden war mein Körper mit Adrenalin geflutet worden und ich war aufgesprungen, durch die Wohnung gerannt und hatte mich mit einer athletischen Bewegung, die ich mir zuvor niemals zugetraut hätte, unter den Tisch gestürzt. Alles war so schnell passiert und ich musste mich nach dem ersten Schock richtig dazu zwingen, ein zweites Mal hinzusehen, um mich von der bitteren Tatsache zu überzeugen. Mein Leben wie ich es bisher kannte, war nicht mehr, einfach so war es ausgelöscht worden und nun saß ich verloren und alleine da und wartete vergeblich auf Hilfe.
„Bitte haben Sie noch einen Moment Geduld“, säuselte die mechanisch wirkende Stimme am anderen Ende der Leitung und ich hätte am liebsten losgeheult. „Diese Schweine!“, dachte ich aufgebracht und ballte meine Fäuste so heftig, dass meine Knöchel weiß herausstachen. Alles war nur ihre Schuld und jetzt ließen sie mich einfach so im Stich. Natürlich, ich habe mich auch nicht immer korrekt verhalten, aber das ging einfach zu weit, so etwas hatte ich nicht verdient! Wutentbrannt schleuderte ich ein lose herumliegendes Kabel aus meinem Versteck und pfiff auf die Konsequenzen. Der Drucker fiepte kläglich und holte mich wieder in die Realität zurück, sodass ich mir betroffen die Haare raufte. Vielleicht, überlegte ich verzweifelt, würden sie mir aus dieser schrecklichen Misere helfen, wenn ich mich mehr anstrengte, wenn ich alles stets pünktlich erledigte, aber dazu musste ich dieses Grauen erst überleben.
In der Küche rumpelte etwas laut und ich zuckte heftig zusammen, woraufhin ich meinen Ellenbogen am Tischbein anschlug. Ich jaulte auf und konnte danach nicht mehr aufhören, es war, als wären alle Dämme gebrochen. Heiße Tränen tropften auf mein T-Shirt und während die stupide Musik weiter dahinplätscherte, verlor ich komplett die Kontrolle. Ich verstand, dass es nie wieder so werden konnte wie es vorher gewesen war, dafür war schon viel zu viel Zeit verstrichen und alles Wunschdenken war vergebens. Ich würde mich einfach damit abfinden müssen, dass dieser Horror nie ein Ende findet, dass ich auf ewig verloren war.
„Marina Smidt am Apparat, wie kann ich Ihnen helfen?“ Es dauerte einige Augenblicke, bis ich begriff, dass die Musik aufgehört hatte, danach riss ich mich so schnell ich konnte zusammen und sagte mit aufgewühltem Tonfall: „Mein Internet geht nicht!“

Autorin: Rahel
Thema: Moderne Schrecken
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2 Gedanken zu „Halloween-Special | Drei“

    1. Ein zombietastisches Hallo(ween)
      und ein blutig-zerrissenes „Merci“ für deinen Kommentar. Es freut mich natürlich, dass dir unsere Halloween-Idee gefallen hat und kann dich schon mal vorwarnen, dass es bei Sarah gleich weitergehen wird.

      Geisterhafte Grü-hu-hüsse und die besten Wünsche
      Deine Clue Writer
      Rahel

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