„Pass bloß auf“, zischte Vlad, als der Lichtkegel seiner Taschenlampe durch den Drogeriemarkt wanderte. Die Regale waren fast alle leer, vermutlich hatte seit mehreren Wochen niemand das Geschäft betreten. Karina, die eine Handsäge hielt, mit der sie dem Schloss an der Tür den Garaus gemacht hatte, stimmte zu: „Aufpassen ist sowieso keine schlechte Idee. Könnte ja sein, dass der Widertand die Straßen patrouilliert.“
„Oder das Militär. Oder andere Plünderer. Wer weiß das schon heutzutage.“
„Also, wo sind die Medikamente? In diesem Laden ist die Filiale einer Apotheke, das hast du selbst behauptet.“
„Da hinten.“ Karina deutete zu einer entfernten Theke, im Halbdunkel kaum zu erkennen. „Jedenfalls waren sie da vor dem Krieg.“
Das Duo schritt durch den Gang, trat dabei auf zerknitterte Verpackungen der Lebensmittel, die längst geplündert worden waren. „Ich hatte ja meine Zweifel, als die Bosse meinten, du kämst mit auf diesen Trip.“
„Wieso?“, beschwerte sich Vlad. „Ich bin einer der besten Späher in unserem Lager, erfahren, fit und war mehrmals Wettkampferster in einem Marathon.“
Karina lachte leise. „Um Himmels Willen, doch nicht darum, du würdest mich problemlos abhängen, wenn wir flüchten müssen! Ich dachte eher, weil du dieses Viertel nicht kennst und wir noch nie zusammen draußen waren.“
„Dafür bist ja du dabei.“ Vlad sah sich in dem zerstörten Laden um und gab ein enttäuschtes Seufzen von sich, als er die leeren Regale neben der Kasse bemerkte. „Alles ist schon weg, ich habe gehofft, es hätte noch was Essbares, diese Ladenkette hatte immer Snacks hier vorne. Tja, so ist das Leben: Ein ewiges Elend, das mit einer Atombombe über unseren Köpfen enden wird.“
Karina schnaubte nur halb amüsiert. „Sag nichts, ich möchte wieder mal ein Muffin genießen. Wie früher, man geht einkaufen und nimmt sich rasch eines der eingeschweißten Dinger, in denen mehr Frischhaltestoffe als Kalorien stecken.“
„Hm. Ich hoffe eher, eines Tages wieder ein frisch gebackenes Croissant zu essen. Wie zivilisierte Menschen.“
Kurz herrschte Schweigen, während sich das Duo weiter durch das leere Geschäft vorarbeitete. Schließlich wollte Karina wissen: „Was warst du eigentlich im früheren Leben? Du weißt schon, als wir uns mehr Sorgen über Steuern als radioaktiven Niederschlag gemacht haben?“
Vlad brauchte eine Sekunde zum Antworten, zu überrascht war er über den Themenwechsel. „Banker. Sie schicken mich nur öfter raus, weil ich ziemlich viel Sport gemacht habe und Jäger war … kurz, ich kann schnell wegrennen und mich verstecken. Du?“
„Versicherungsagentin. Habe aber nur Yoga gemacht, das ist erst mein zweites Mal außerhalb der Zone. Ich denke, sie haben mich nur gewählt, weil ich die Gegend kenne und wir noch nie jemanden hierhingeschickt haben. Und vielleicht, weil ich ein bisschen Ahnung von Medikamenten habe. Na ja, so viel Ahnung wie man halt hat, wenn man kranke Eltern pflegt.“
„Und deine Eltern haben …?“, begann Vlad, ohne seine Frage auszusprechen.
Karina schüttelte ihre Lockenmähne. „Nein, sie sind am Anfang des Kriegs gestorben.“
Nach kurzem langte das Duo bei der Ecke mit der Apotheke an und Vlad kratzte sich am Kinn. „Wieso glaubst du eigentlich, hier gebe es noch Medikamente? Hast du eigentlich einen bestimmten Grund dafür?“
„Nein, ich hoffe nur. Und wir waren noch nicht hier, es ist einen Versuch wert.“ Sie machte die Runde um den staubigen Tresen und trat durch eine offenstehende Tür ins Hinterzimmer. „Okay …“
„Okay, was?“ Vlad klang skeptisch. „Ist das ein gutes ‚Okay‘ oder ein schlechtes ‚Okay‘?“
Karina, die in verschiedenen Schubaden wühlte und dabei Schachteln hervorkramte, entgegnete: „Ich glaube, das ‚Okay‘ war ganz okay.“
„Hä?“
„Ein paar Antibiotika sind noch übrig, Schmerzmittel habe ich bislang kaum ge…“ Sie unterbrach sich, als sie eine Packung Tabletten musterte und in den Rucksack steckte. „Na ja, ein paar. Gar nicht schlecht.“
„Kann ich was helfen?“, erkundigte sich Vlad.
Karina, die mehrere Fächer aus einem Regal zog und deren Inhalt prüfte, schlug vor: „Du kannst all den Kram, den ich dir hinstelle, einpacken. Es sieht ganz so aus, als hätten wir mehr Glück als befürchtet.“
„Bin dabei.“ Vlad stellte seinen Ranzen auf eine Ablage, machte ihn auf und kippte den Inhalt der Boxen, die Karina ihm reichte, hinein. „Hey, das ist ja eine ganze Menge.“
„Klar. Es gibt keinen Grund, weniger mitzunehmen, als wir tragen können.“ Karina zog das letzte Fach herum, stellte fest, dass es leer war, und schob es wieder zu. „Na ja, ganz voll werden unsere Rucksäcke nicht, wir können schauen, ob wir im Drogeriemarkt vorne noch Hygieneprodukte oder so finden, wenn wir schon hier sind.“
„Gute Idee“, stimmte Vlad zu, schulterte den Rucksack und machte sich auf den Weg zurück nach vorne. „Hey, was ist das für eine Blume?“
Karina folgte seinem Fingerzeig auf ein Werbeplakat, auf dem eine Nahansicht einer Blüte zu erkennen war. „Baldrian. Sollte beim Einschlafen helfen.“
„Tief zu schlafen ist heutzutage eher eine schlechte Idee“, kommentierte Vlad trocken. „Wenn das Militär auftaucht, will ich hellwach sein und rennen können.“
Karina gab ein zustimmendes „M-hm“ von sich, ehe sie mit ihrer Taschenlampe durch das Geschäft zündete. „Ich denke, das war es, hier hat es keinen Hygienekram mehr. Besser, wir kehren um, bevor es dämmert, am Tag sind sicher Patrouillen in der Gegend.“
„Gute Idee.“ Vlad schaltete die Taschenlampe aus, steckte sie weg und bedeutete der Kameradin, dasselbe zu tun. „Wir wollen draußen nicht auffallen, manchmal sind auch nachts Soldaten unterwegs.“
Als die beiden auf den Ausgang zugingen, meinte Karina: „Weißt du, auch wenn die Welt gerade vor die Hunde geht und wir nicht wissen, ob man uns morgen mit einer Atombombe plattmacht, es gibt noch Hoffnung. Manchmal findet man Medikamente oder schließt neue Freundschaften.“
„Optimistin“, schnaubte Vlad, zog seine Pistole, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein und trat auf die Straße.