Diese Story ist auch als Hörgeschichte und in einem Sammelband erschienen.
Diese Geschichte spielt im erweiterten Universum der „Promise“-Reihe.
Stanley trat vorsichtig in die Gangway, welche die beiden Sternenschiffe miteinander verband. Er hielt seinen Blaster bereit, denn sie wussten nicht, was sie hinter der Schleuse erwartete. Der blonde Mittvierziger wandte sich an seine Begleiterin: „Jetzt sag schon, Natala, glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee war?“
„Das bemerken wir, sobald uns jemand in den Kopf schießt“, kommentierte sie trocken, bevor sie ergänzte: „Nun ja, für hunderte Lichtjahre liegt in keiner Richtung eine bewohnte Welt, das Schiff driftet im Raum und hat seinen Notfall-Peilsender aktiviert. Es ist …“
„Ehrenkodex, alles klar, ich darf wieder Gentleman spielen“, redete er seiner dunkelhäutigen Kollegin dazwischen, die zugleich der Captain ihres alten Frachters, der Promise, war. „Aber manchmal möchte ich echt etwas Wertvolles in einem dieser Wracks finden statt der üblichen Leichen, Abfälle und Dingen, die kein Geld auf dem Schwarzmarkt bringen.“
„Tja, das warme Gefühl in der Magengegend, wenn man jemanden rettet, ist kaum sättigend“, stimmte Natala ihm zu und blieb vor dem Zugang stehen. „Dennoch finde ich, wir sollten uns ehrenhaft verhalten.“
Stanley murmelte leise „Wenn es in der Magengegend ist, nennt man das Hunger“, ehe er fragte: „Auf drei?“
Die beiden Gefährten hatten schon mehrere Minuten die verlassenen Gänge des havarierten Raumschiffs abgesucht, ohne fündig zu werden. Stanley befürchtete je länger, desto mehr, keine Überlebenden anzutreffen, vermutlich waren sie mit den Rettungsbooten geflüchtet. „Was auch immer dieses Schiff lahmgelegt hat, es muss eine üble Panne gewesen sein.“ Sie marschierten schweigend weiter und Stanley fiel es schwer, in der schummrigen Notbeleuchtung viel zu erkennen. Natala, die vorausging, deutete auf eine in Koreanisch beschriftete Tür: Dahinter müsste die Küche sein, wenn man meinem Sprachwissen trauen kann. Möglicherweise entdecken wir in den Gemeinschaftsräumen einen Hinweis darauf, was geschehen ist.“
„Das ist ein kleiner Frachter, vermutlich ein Schmugglerschiff – eine große Crew werden die wohl kaum an Bord gehabt haben.“
Stanley hatte das mulmige Gefühl, hinter jeder Ecke könnte im Schatten eine Gefahr lauern. Er kannte genügend billige Horror-Holofilme, um seine Fantasie verrücktspielen zu lassen. Menschenfressende Aliens waren zwar eine Erfindung der Unterhaltungsindustrie, trotzdem gab es reichlich Situationen hier draußen, die sehr wohl tödlich enden konnten – eigentlich so ziemlich das ganze Spektrum von Freibeutern, über Psychopathen bis hin zu Zombies.
„Scheiße!“ Natalas halblauter Ruf hallte gespenstisch durch die Gänge und veranlasste Stanley dazu, seinen Blaster hochzureißen und die paar Schritte zu ihr zu hasten. Sie zeigte in den vor ihnen liegenden Raum. Ihnen bot sich ein Bild des Grauens: An einem runden Holztisch in der Mitte der Wohnküche saßen fünf Leichen auf abgenutzten Stühlen. Manche waren auf die Tischplatte vornübergekippt, andere zurückgelehnt, doch Stanley bemerkte eine Gemeinsamkeit – ihnen war in den Kopf geschossen worden.
Natala langte als Erste bei den Toten an und besah sich das Massaker genauer, während Stanley ihr Deckung gab. Die beiden reisten schon lange auf ihrem Schmugglerfrachter und hatten viele Abenteuer zusammen gemeistert, konnten sich in solchen Situationen dementsprechend als eingespieltes Team verhalten. Stanley bemühte sich, seine Unruhe im Zaum zu halten, es war ohnehin unwahrscheinlich, jemanden an Bord zu vorzufinden.
„Sieht aus, als gehören die Leute zur selben Gruppe“, teilte ihm Natala ihre Schlussfolgerung mit. „Die sind identisch angezogen, wie Frachtercrews, der eine sieht sogar so aus wie der Bruder des anderen.“
„Dann waren das keine Freibeuter“, stellte Stanley fest. „Wären sie von Piraten überfallen worden, säßen sie kaum so entspannt am Tisch. Sie wurden wohl beim Essen überrascht.“
„Einer der Crew oder Passagiere läuft Amok, bringt seine Gefährten um und flüchtet?“ Natala runzelte die Stirn und verzog die Lippen. „Sogar das Abendessen steht noch auf dem Tisch: Lasagne.“
„Dieser Parmesan ist komi…“, begann Stanley, unterbrach sich nach genauerem Hinsehen, welches ihm verriet, dass es sich bei der Garnierung nicht um Käse, sondern mit Blut vermengte Hirnmasse handelte. „Vergiss es.“
„Denkst du, die sind an Bord?“, erkundigte sich Natala skeptisch, als sie die Ladung ihrer Strahlenwaffe prüfte, ein zufriedenes Geräusch von sich gebend. Die beiden Schmuggler hatten sich bis zur Brücke des verwaisten Frachters vorgewagt und waren auf keine Menschenseele getroffen, nun tippte Natala einige Befehle in die Kommandokonsole.
„Sieht nicht danach aus“, brummte Stanley, stets auf die einzige Zugangstür konzentriert. Er riskierte einen kurzen Seitenblick aus dem Panoramafester des Flugdecks, konnte die längs liegenden kantigen Konturen der Promise ausmachen, Zuhause und Sicherheit in einem versprechend. „Das gefällt mir gar nicht“, bemerkte Natala, sofort schärften sich seine Sinne, er konzentrierte sich erneut auf den Eingang. „Was ist es?“
Der Captain las die Daten von dem holographischen Display ab. „Dieses Schiff hat fünf Crewmitglieder, ihre Fotos passen zu den Toten hinten in der Küche.“ Sie machte eine Pause. „Anhalter?“
Stanley war es ein Leichtes, ihren Gedankengang nachzuvollziehen. „Du meinst, sie haben Anhalter mitgenommen, die sie umgebracht, dann die Wertgegenstände gestohlen haben und mit dem Rettungsbooten geflüchtet sind?“
„Klingt plausibel“, meinte Natala schulterzuckend. „Wir werden nie erfahren, was hier vorgefallen ist und wieso unsere Killer das Handtuch geworfen haben – das Schiff ist jedenfalls funktionsfähig.“
„Andererseits, möchtest du mit einem Tatort auf einer Welt landen?“, gab Stanley zu bedenken. „Eine Zollkontrolle – zack, du verbringst den Rest deines Lebens hinter Gittern.“
„Stimmt auch wieder.“ Nur mit halben Ohr lauschend, war Natala in die angezeigten Daten vertieft. Sie schob mit der Hand einige Hologramme vor sich herum. „Was um alles in der Galaxis?!“ Sie ließ Stanley gar nicht erst zu Wort kommen, sondern erklärte sogleich: „Wenn man dem Manifest glauben will, hat dieser Frachter zehn Kisten Pyrianagras geladen! Ha, wir haben gerade den Jackpot geknackt!“
„Pyri? Also waren sie Drogenschmuggler“, überlegte Stanley. Ihm war bewusst, was der Schwarzmarktwert einer solchen Fracht war – sie hatten nur eine sinnvolle Option, wenn auch Stanley lieber rascher zurückgekehrt wäre. „Das hätte man mit keinem Rettungsboot mitnehmen können, die Kisten sind zu groß, darum müssen sie es zurückgelassen haben. Okay, laden wir das Zeug auf die Promise und dann nichts wie weg von diesem Schrotthaufen. Es lebt ja niemand mehr, der die Drogen vermissen könnte.“ Er war froh, wenn sie endlich von diesem schwebenden Grab wegkämen, aber das Geschäft hatte nun mal Priorität vor seinem Wohlbefinden. Ungeachtet dessen wollte er auf Nummer sicher gehen: „Hast du einen Lebensformenscan gemacht?“
Seine beste Freundin schüttelte ihren lockigen Kopf und gestikulierte auf eine Fehleranzeige der Konsole. „Nee, das Teil ist defekt – die Systeme sind auf Stand-by, wir müssen halt einfach unser Glück versuchen.“
„Na großartig“, murrte er indigniert.
„Was für ein Brocken“, stöhnte Natala und wuchtete eine Kiste auf den Schwebewagen, mit dem sie die Fracht durch die Gangway an Bord ihres Sternenschiffes verluden. Stanley unterdrückte den Impuls, ihr dabei zur Hand zu gehen, es war klüger, wenn jemand von ihnen dem anderen Deckung gab.
„So, das war’s dann.“ Lapidar wischte der Captain den Schweiß von ihrer Stirn. „Goodbye, Massengrab – sorry, dass wir niemanden retten konnten.“
War sie heute besonders einfühlsam oder hatte er gerade eine sarkastische Bemerkung überhört? Damit wandte sie sich ab und schob den Wagen auf die Luftschleuse zu, die zur Gangway führte. Stanley ging ohne sich umzuwenden, da er den Frachtraum des sterbenden Schiffes im Visier haben wollte. Eine böse Überraschung wäre jetzt das Letzte gewesen, was sie gebrauchen konnten. Nur wenige Meter fehlten ihm noch, um rückwärtsgehend die Schleuse zu erreichen, da geschah es: Aus der Dunkelheit zu seiner Linken war ein Rascheln zu vernehmen, eine kaum wahrnehmbare, fließende Bewegung und der Hüne von einen Mann hatte ihn zu Boden gerissen, lag über ihm. Es war ein stummer Kampf, der Kerl gab keinen Laut von sich außer stoßweisen Atemzügen. Innert Sekundenbruchteilen hatte der Fremde seine Pranken um den Hals seines Opfers geschlossen und ihm das Knie hart in den Magen gerammt. „Nat…“, keuchte der Überraschte, seine Stimme erstickte in einem Gurgeln. Panisch riss, zog, zerrte er an dem Stärkeren, ohne Erfolg. Schwarze Flecke begannen in seinem Gesichtsfeld zu tanzen, alles drohte in Schwärze zu kippen. Wie durch einen Schleier erklang Natalas Stimme: „Gute Reise, Arschloch!“
Ein Zischen und das helle Aufblitzen eines Blasters blendete Stanley, gefolgt von einem grausigen Splittern, als die Schädeldecke des Kerls barst. Der Würgegriff erschlaffte, er japste nach Luft und kraxelte panisch unter der Leiche hervor. Der Geruch nach Ozon lag in der abgestandenen Luft. Stanley wischte Blut von seinen Wangen – nicht seines, sondern das des Toten. „Ehrenkodex“, sagte Natala und half ihm auf. „Man lässt keinen zurück.“
Stanley hatte sich ausgezogen und sah sich in seiner Nasszelle an Bord der Promise um. Sie hatten das havarierte Schiff längst hinter sich gelassen, waren wieder im Hyperraum unterwegs, weit entfernt von mordenden Spinnern, weit entfernt von den Abgründen der menschlichen Rasse. Nicht zu wissen, wieso jemand etwas getan, ja fünf Menschen ermordet hatte, machte ihm wenig aus, am Ende lief alles auf Gier oder Hass hinaus, Illusionen machte er sich keine. Vielleicht hatte der Anhalter die Crew niedergemacht und erst dann erfolglos nach einem Weg gesucht, die wertvolle Fracht in ein Rettungsboot zu packen. Da wäre ein zweites Schiff auszurauben und zu kapern ein nettes Zubrot. Sie würden nie erfahren, ob das der Grund gewesen war.
„Dusche, Wasser, lauwarm“, befahl er dem Computer. Gleichmäßig plätscherte hinter ihm das erfrischende, reinigende Nass aus der Decke. Angewidert warf Stanley seine Kleidung in den Schlitz des automatischen Wäschekorbs, froh darum, sich nicht um das Blut sowie die anderen menschlichen Rückstände kümmern zu müssen, ehe er in die Dusche trat. „Seife“, forderte er die rudimentäre, künstliche Intelligenz auf, welche das ganze Raumschiff kontrollierte. „Verdammt viel Seife!“
Während sich die schaumige Flüssigkeit mit dem Wasser vermischte, es trübte, schließlich den Dreck ihres kleinen Abstechers abwusch, lehnte sich Stanley gegen die kühlen Fliesen und genoss den entspannenden Moment. Er mochte ein abgehalfterter, ruchloser Weltraumschmuggler sein, aber verglichen mit manchen Menschen, die durch die ewige Nacht fuhren, war er ein ganz netter Kerl, befand er. Nur, er war müde – müde, stets Gefahren einzugehen, sich auf Risiken einzulassen, die einen umzubringen drohten. Das Glas, das man über den Durst trinken konnte, lockte ihn mit jeder schlaflosen Nacht mehr, in der er sich an all die geschundenen Körper, die Narben auf seiner Haut erinnerte. Trotz alledem hatte er dieses Gefühl in der Magengegend, von dem Natala vor einigen Stunden gesprochen hatte. Und bei dem Gedanken an Lasagne lief ihm das Wasser im Mund zusammen.