Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Pünktlich viertel nach neun klingelte es an der Tür, der Botenjunge hörte das Schlüsselklimpern, vermutete sie hinter dem Spion und hob zum Gruß die Hand, bevor er sich von der Tür entfernte. „Grüßgott“, flötete Nadine ihm mit einem versteckten Schmunzeln zu und deutete zur Kommode, die sie mit einigen Tannenzweigen, einer Kerze und Günter, ihrem Holzelch, der einen stilechten Norwegerpullover trug, geschmückt hatte. „Für Ihre Mühe.“
„Ach“, machte der junge Mann, als er die hübsch verschnürte Pralinentüte mit dem Zwanzigfrankenschein entdeckte. „Wie lieb von Ihnen. Das wäre nicht nötig gewesen.“
„Papperlapapp. Sie sind dieses Jahr mein Weihnachtsmann.“ Eigentlich hatte sie geplant dem Lebensmittellieferanten zehn statt zwanzig Franken zu geben. Das Geld war wie üblich knapp, aber Nadine wollte es sich leisten und hoffte, die anderen Leute, die er belieferte, sahen das genauso.
„Vielen lieben Dank Frau“, er spickte auf seinem Zustellzettel, „Störchli. Haben Sie ein besinnliches Fest und bleiben Sie gesund.“ Aus seinen Augen leuchtete ein Lächeln, es war so einfach, jemandem eine Freude zu bereiten.
„Ich versuche es“, lachte sie bitter, erwiderte seine guten Wünsche und wartete bis er aus dem Flur gegangen war, um die beiden Taschen reinzuholen. Ganz oben lagen die Bananen, die sie für die Currysauce und ihr allmorgendliches Müsli bestellt hatte, direkt darunter schaute ein Bund Petersilie heraus. Sorgfältig stellte sie die Tüten auf der Küchenkombination ab, ließ Wasser in den Schüttstein laufen und gab einen ordentlichen Drücker Abwaschmittel dazu. „Ah, guten Morgen Herr Frank, schon wach?“, fragte Nadine die Katze, der es im Schlafzimmer zu langweilig geworden war, legte ein Frotteetuch auf den Keramikherd und begann damit, sämtliche Fressalien in der seifigen Lösung zu waschen. Danach würde sie die Prozedur mit klarem Wasser wiederholen, schließlich sollte ihre Suppe später nicht schäumen, sondern schmecken. Ja, die Tage dauerte alles ein wenig länger, das Leben war umständlicher geworden und gleichzeitig fiel es ihr so leicht wie nie, zu wissen, was ihr wichtig war. Manchmal war es tatsächlich so einfach, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Das Fleisch hatte sie ins Gefrierfach gelegt, halb gefrostet ließe es sich in hauchdünne Scheiben schneiden, ohne groß zerfleddert zu werden. Das hatte ihr ihre Oma beigebracht, wie alles, was Nadine in der Küche konnte. So auch die Zubereitung der diversen Saucen, die es jedes Weihnachten zum Fondue Chinoise im Hause Störchli gab. Die Vorteile dieses Gerichts waren offensichtlich, es war lecker und so einfach wie kein anderes Festmahl auf den Tisch gezaubert. Herr Frank legte sich schnurrend auf seine Decke in der Eckbanknische, indes verkostete Nadine zum vierten Mal den Cognac, der unverändert nach Sprit roch. Die Kräutersauce war bereits fertig, dem Knoblauchdip fehlte Salz und der Wasserkocher kündete mit lautem Brodeln an, dass es Zeit war, die Paprikas für die Chilisauce zu blanchieren. Laut dem Rezept kamen da lediglich einige Chiliflocken hinein, weder Nadines Oma, noch ihr Vater mochten scharfes Essen, also hielt sie sich mit dem Würzen zurück. „Was sagst du, Katerchen? Riecht prima, gell?“ Ihr haariger Hausfreund zeigte wenig Begeisterung für den Gemüsefond, ebenso interessierte ihn Nadines trauriger Gesichtsausdruck nicht. „Riecht prima“, wiederholte sie, fuhr sich übers Gesicht und löffelte ein bisschen Mayonnaise in eine kleinere Schale. Deswegen mochte sie Katzen, es war so einfach neben ihnen traurig zu sein, denn Mitgefühl war das letzte, was sie brauchte. Nadine hasste es, bemitleidet zu werden. Die Idee, Leid werde durchs Teilen halbiert, schien ihr unlogisch, bestenfalls Wortklauberei. Nein, Kummer vermehrte sich mit jeder Person, die ihn übernahm, deshalb zog sie es vor, ihn für sich zu behalten.
„Gut, wir sind bald soweit“, verkündete sie sich stolz in der Küche umsehend, öffnete den Hängeschrank über der Spüle und zog vier Teller hervor.
Nadines ohnehin schon enges Wohnzimmer wurde durch den schief gewachsenen Tannenbaum, der den Rest des Jahres auf ihrem Balkon residierte, beinahe unbegehbar. Ungelenk schob sie sich mitsamt dem Tablett zwischen Tisch und Fernsehsessel vorbei und platzierte ihre Saucenschalen auf dem Drehteller. Lecker salziger Dampf stieg von der Brühe im Rechaud auf, beschlug ihre Brille. Das passierte in den letzten Monaten häufiger, wenn sie mit ihrem Mundnasenschutz aus der Kälte ins Innere kam. Es war eine erträgliche Unannehmlichkeit, kaum der Rede wert, und sie tat es bereitwillig, um ihre Mitmenschen immerhin ansatzweise zu schützen, ihnen Respekt entgegenzubringen. Es hätte so einfach sein können, dachte sie bei sich, unterdrückte ein Schluchzen und schlängelte sich zurück in die Küche, um die Fleischplatte zu holen, ehe Herr Frank auf dumme Gedanken käme. „Tja, du bist zu langsam“, foppte sie das Tier grinsend, hielt inne und seufzte: „Na gut, weil Weihnachten ist.“ Sie pickte eine der feinen Fleischscheiben von der Platte und reichte es dem Kater, der den Leckerbissen erst skeptisch beschnupperte, anleckte und schlussendlich verschmähte. „Was bist du wählerisch“, gluckste Nadine, warf das Stückchen in den Komposteimer und balancierte den Fleischteller in die Stube.
Der Tisch war für vier Personen hergerichtet, in der Mitte das Rechaud, die Schälchen mit den Dips und darum herum verstreut einige Zweige, Dekolichter, Sternchen und drei Kerzen. Ihre Mutter war früh verstorben, da war sie gerademal in die zweite Klasse gegangen. Am einundzwanzigsten Dezember war das gewesen, sie hatte die Kontrolle über ihren Wagen verloren, war mitsamt den Weihnachtseinkäufen durch den Zaun gebrochen und den Abhang hinunter gerast. Nadine erinnerte sich nur noch vage daran, ihre Großmutter hatte es an Heilig Abend nicht übers Herz gebracht, den Platz der Tochter so einfach leer zu lassen, seither bekam sie zu jedem Fest ein Gedeck. Auch vor Omas längst verlassenem Stuhl stand ein Teller, ein Glas ohne Wein. Nadine schluckte, ihr Blick wanderte zum getopften Baum, unter dem eine Holzschatulle lag, es war so einfach für ihren Vater etwas Passendes zu finden. Er freute sich über jedes Ding, auf dem eine Kuh abgebildet war, also schenkte sie ihm zu jedem Anlass ein neues Kinkerlitzchen für die Sammlung, dieses Mal war es eine Maske mit Kuhflecken, sie hätte ihm bestimmt gefallen. „Es ist alles so einfach!“, stieß sie stotternd aus. Es ist alles so einfach, denn nun vermehrte sich Nadines Kummer nicht mehr.