Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Der junge Mann streckte sich und warf einen Blick aus dem verdreckten Seitenfenster des alten Dodge-Kombis, welcher in der brütenden Spätnachmittagshitze auf einem dieser riesigen, leeren Supermarkt-Parkplätze stand. Die Motorhaube war von der langen Fahrt durch die Everglades noch warm, der Wagen war gerade eben angekommen. Aus dem Radio dudelte irgendeine Melodie, die er schon so oft gehört hatte, sodass er sie kaum mehr wahrnahm – typische Fahrstuhlmusik eben. Er mochte keine unscheinbare Musik, da bevorzugte er Pauken und Trompeten oder Orgelklänge, Hauptsache es weckte auf, sowohl physisch als auch spirituell. Er hatte das große Buch lange studiert und wusste, was in einem Song gesagt werden durfte, und was nicht – Moral war für ihn eine Frage von Gut und Falsch, von Schwarz und Weiß, so hatten es ihn seine spirituellen Anführer gelehrt und so musste es auch sein. Er hatte seinen Namen geändert und manche nannten ihn nun den Mutigen, andere den Vollstrecker – wichtig waren bloß Taten, keine Namen. Es gab sowieso bloß einen Namen, den niemand vergessen würde, und das war nicht seiner.
Was er tat, war eine Notwendigkeit, nicht mehr und nicht weniger. Andere hatten es vor ihm getan und wiederum andere würde es nach ihm tun, lange nachdem sein Körper verwest war und er das ewige Leben genießen würde. Nicht, dass er vorhatte, heute zu sterben, dazu war es für ihn nicht an der Zeit; er war der Vollstrecker und er würde noch viele Ungläubige zur Hölle schicken, bevor es soweit war. Jeden Tag betete er, dass er vor seinem Tod eine Million von ihnen erledigen konnte, doch er hatte den Verdacht, dass alleine die die paar Hundert, die er heute mindestens erwischen würde, eine gute Zahl wären. Er malte sich das Erstaunen der Leute in dem Stadion aus, wenn die Bombe in seinem Wagen in etwas mehr als einer Stunde hochgehen und sie in den Tod reißen würde. Zuerst hatte er seine Aufgabe nicht gemocht, doch mit jedem Mal war seine Begeisterung gewachsen und nun war er überzeugt, dass er bereits dazu bestimmt gewesen war, als er noch in einer Wiege gelegen hatte. Berufung war das richtige Wort, doch sogar dies war zu fade, um seine wahren Gefühle auszudrücken. Jedes Mal, wenn eine Explosion das Leben bedeutungsloser Ungläubiger zerriss und sie mit einer Ewigkeit in Qualen bestraft wurden, fühlte er sich Eins mit der Welt und dem Universum.
Er warf einen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk. Er hatte noch gut Zeit, einen Apfel zu essen, bevor er losfuhr; früher als eine halbe Stunde vor dem großen Knall wollte er den Wagen nicht im Parkhaus unter dem Stadion abstellen, schließlich konnte jederzeit jemand die Autobombe entdecken. Dies würde ein freudiger Tag werden, ein Zeichen dafür, dass Millionen von Menschen nicht an das Gute glaubten und ihnen dies vergolten wurde. Daher war es auch nicht weiter schlimm, wenn die Explosion ein paar Gläubige verschlang, schließlich erwartete sie ein besseres Jenseits. Er wollte noch nicht sterben, noch blieb ihm ein kleiner Rest an Furcht, der an ihm nagte und ihm suggerierte, dass er dieses Leben behalten wolle, doch mit jeder Bombe, die er baute, wurde die Stimme leiser – eines Tages würde sie hoffentlich ganz verstummen. Dann konnte er selbst eine seiner Weltuntergangsmaschinen in ein Regierungsgebäude tragen, würde nie vergessen werden und als der Held in Erinnerung bleiben, der er gewesen war, um schließlich mit einem Ehrenplatz im besseren Jenseits bedacht zu werden.
Er lehnte sich zurück und drehte das Radio lauter; nun lief Rockmusik – nicht besser, wenn man bedachte, wie viel diese mit Drogen und unehelichem Sex zu tun hatte. Doch manchmal, wenn ihn die Erinnerungen an sein altes Leben überkamen, konnte er einige Sekunden davon genießen, bevor die Schuldgefühle überhandnahmen und er schamerfüllt den Sender wechselte. Nein, dieses Leben war vorüber, er war nicht mehr der junge Mann mit einem Alkoholproblem und einem Motorrad, er war nun der Vollstrecker, manchmal sah er sich gar als Hand des Himmels.
Er sprach ein kurzes Gebet und streckte eben die Hand nach dem Zündschlüssel aus, als ihn die Stimme des Radiomoderators aus seinen Gedanken riss. „…und nun folgt ‚Highway to Hell‘ an diesem schönen, heißen Frühlingsabend…‘“
Instinktiv griff er in Richtung des Radios, um den Sender zu verstellen, doch die angenehme und nichtssagende Stimme des Moderators fuhr zu den ersten Gitarrenklängen fort: „Und für alle, die noch die Winterzeit im Blut haben – es ist in wenigen Sekunden sieben Uhr und Zeit fürs Abendessen.“
„Sommerzeit?“, murmelte er verwirrt und das Erstaunen in seinem Gesicht hätte nicht grösser sein können, während er einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett warf, die kurz vor sechs anzeigte. Ein kaltes Gefühl der Angst überkam ihn in dem Sekundenbruchteil, der ihm noch blieb, bevor die Detonation der Zeitbombe den alten Dodge in einen großen Feuerball verwandelte und seine Einzelteile über den ganzen Parkplatz verstreute.