Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Rumpelnd querte der Geländewagen ein Schlagloch und Janet wachte aus ihrem Dämmerzustand auf. Es dauerte einige Sekunden, bis ihr einfiel was geschehen war, wo sie sich befand und … Instinktiv versuchte sie, die Hände zu heben, erfolglos. Sie war mit Handschellen, die bei manchen Bewegungen schmerzhaft einschnitten, an den Beifahrersitz gefesselt. Offenbar waren sie vom Highway auf einen Nebenweg abgebogen, das Ruckeln musste sie aufgeweckt haben. Janet röchelte: „Wo sind wir?“
Ihr Entführer hatte sie auf dem Parkplatz ihres Labors getasert und dann in den schwarzen SUV gezerrt. Er trug eine Skimaske und schaute sie eine Weile durchdringend an, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße richtete. Vermutlich fuhren sie in Richtung des Waldes am Stadtrand, im dimmen Licht des späten Abends war es schwer auszumachen. „He, wo sind …“, holte sie aus, verstummte und duckte sich. Das letzte Mal, als sie ihm einen Kommentar hatte entlocken wollen, war sie mit einem Schlag ins Gesicht bestraft worden. Janet gelang es, die aufkeimende Panik zu unterdrücken und nochmals alle erdenklichen Szenarien durchzuspielen, die den Unbekannten dazu gebracht haben könnten, sie zu verschleppen. Janet holte tief Luft, nahm ihren Mut zusammen und flüsterte zaghaft: „Bitte … was wollen Sie von mir?“ Sie verfluchte sich für das klägliche Zittern in ihrer Stimme. „Geht es … geht es um meine Arbeit?“ Ihr Herz setzte einen Schlag aus. „Ich weiß nichts, ehrlich. Meine Supervisoren halten die wichtigen Informationen unter Verschluss und …“
„Kein Plan, von was du da laberst, Schätzchen.“ Sie zuckte ob der unerwarteten Antwort zusammen, gleichzeitig überrollte sie eine Welle der Erleichterung, die sogleich abebbte. Ginge es nicht um ihre Forschungen, war der Fremde womöglich komplett geisteskrank, ein Vergewaltiger, ein Serienkiller, der sie über Wochen zu Tode folterte. Garantiert wusste er, wo jeder Muskel, jeder Nervenstrang, jedes empfindliche Organ war und … Nein, ermahnte Janet sich gedanklich, sie musste einen kühlen Kopf bewahren.
„Der letzten habe ich den Ringfinger abgeschnitten, aber du sollst ganz ankommen“, kicherte er. „Wir sind sowieso gleich da, du wirst schon sehen, was passiert. Und jetzt halt die Klappe.“ Fröhlich pfeifend lenkte er den Wagen zwischen die Tannen.
Janet schluckte und starrte aus dem Fenster, um nicht einen neuerlichen Hieb auf die Schläfe zu bekommen. Das konnte einfach nicht wahr sein, musste ein böser Traum sein, sowas hatte sie nicht verdient, das schlimmste, was sie je jemals getan hatte, war, ein Stromkabel offen herumliegen zu lassen. Sie weinte leise, als sie auf einer kleinen Lichtung anlangten, der Maskierte den Wagen anhielt und den Motor ausschaltete.
„So, da wären wir“, meinte er mit der gespielten Höflichkeit eines Taxifahrers, machte die Fahrertür auf, trat aus dem SUV und streckte sich ausgiebig. Da blitzte der Schein einer Taschenlampe auf und eine Gestalt erschien in einiger Entfernung im Wald.
„Oy! Hast du das Geld?“, plärrte der Entführer und winkte der anderen Person zu. Statt etwas zu entgegnen, zog der hinzugekommene Mann eine Pistole und feuerte dreimal. Der Kidnapper fiel mit einem überraschten Grunzen zu Boden, Janet kreischte entsetzt, riss an den Handschellen, ohne sich befreien zu können und hoffte inständig, die nächste Kugel wäre nicht für sie bestimmt. Der Fremde senkte die Waffe und schlenderte auf den Wagen zu, ganz so, als wäre er auf einem Spaziergang. Er trat an die Beifahrertür, öffnete sie und grinste sie selbstgefällig an. „Hallo, Janet.“ Zuerst erkannte sie den Mann nicht, war er ein Stalker, ein Wahnsinniger? Er strich ihr durchs Haar und sie drehte sich soweit wie möglich weg. „Ach, Janet.“ Da erinnerte sie sich.
„Baldino? Du warst letztes Jahr der Praktikant?“
„Ja, Mark Baldino.“ Er nickte scheinbar erfreut und strich ihr über die Wange.
„Oh Gott, Mark!“, quietschte sie und brach in Tränen aus, glaubte von diesem schrecklichen Albtraum erlöst zu sein. „Mark! Mark, was für ein Glück, dass du da bist!“ Ungehalten beugte sie sich vor, wollte ihrem Retter danken und kam gar nicht auf die Idee, sein beinahe magisches Auftauchen zu hinterfragen.
„Ich habe mich schon oft gefragt“, murmelte er und wich ihr aus, „wie eine derart verkommene Person wie du so hübsch sein kann. Es ist nicht fair.“
„Was?“
„Ach, spiel nicht die Unschuldige, Janet. Das hellgelbe Einfamilienhaus neben dem Labor, wo ihr eure Abscheulichkeiten für die Regierung produziert.“ Sein Ausdruck verfinsterte sich und plötzlich machte ihr Hirn im Nebel die Verbindung.
„Der Ausbruch“, sagte sie monoton und sackte in sich zusammen. „Der Ausbruch. Es war ein Unfall, das wollen wir nicht! Oh mein Gott.“
„Jemand hatte das Stromkabel für die Sicherungsbehälter beschädigt. Meine Frau und Kinder …“, krächzte er schwer atmend. „Sag, Janet, hast du je jemanden, den du liebst, von innen heraus zerfetzt vorgefunden?“
Sie heulte auf, die Bilder, die sie nach der Dekontamination zu sehen bekommen hatte, flackerten vor ihren Augen auf. „Nein!“, brüllte sie und verbarg ihr Gesicht im Polster. „Es tut mir so leid, das hätte nie passieren dürfen. Der Nachtwächter passte nicht auf und wurde zum ersten Wirt, so gelangte die …“
„Rede dich gefälligst nicht heraus, du dumme Schlampe!“, fuhr er sie an und presste den Lauf seiner Waffe gegen ihre Brust. „Du hast an den Biestern gearbeitet“, nuschelte er, bekam sich wieder im Griff und ging zwei Schritte zurück. „Sie stammen aus deiner Pipette oder deinem Brutkasten oder was auch immer. Sie waren deine Kreation, deine Verantwortung!“
Schluchzend harrte sie aus, wusste, er hatte Recht. Sie und ihr Team erschufen die Monster, sie war die Mutter dieser gottlosen Bestien. „Ja“, stieß sie matt aus. „Sie sind meine Schöpfung.“
„Gut“, meinte Baldino kalt. „Dann kannst du dir sicher ausmalen, was dir jetzt blüht?“
„Du wirst mich töten“, stellte sie wimmernd fest. „Du wirst mit töten und es gibt nichts, was ich sagen könnte, um deinen Plan zu ändern.“
Er lachte, mehr bitter denn hämisch, ehe er die Waffe wegsteckte, gemütlich um den Wagen lief und den Zündschlüssel abzog, den er ihn in hohem Bogen in den Wald warf. „Nein, das wäre zu gnädig. Ich zwinge dich, zuzusehen.“
„Zuzusehen?“ Verständnislos musterte Janet ihn. „Bei was?“
„Den letzten Stunden deiner Liebsten, deiner Stadt, vielleicht der Welt.“ Er pausierte und setzte sich neben sie auf den Fahrersitz, sein Atem roch faul, krank. „Ich habe alles vorbereitet, noch als ich im Labor der Praktikantenhund von euch Arschlöchern war. Ja, ich habe dir deine Schöpfung gestohlen, so inkompetent wie du bist, hast du es nie bemerkt“, er schüttelte angewidert den Kopf, brach in kurzes Gelächter aus. „Monatelang habe ich dich studiert. Deine Freunde, deine Familie, deine Gewohnheiten, wer dir was bedeutet. Und heute Nacht habe in den Inhalt deiner tiefgekühlten Behälter aus dem Labor in ihre Wohnungen gebracht, auf die Türklinken geschmiert, unters Essen gemischt. Es wird nicht lange gehen.“
Janet schrie gequält auf. „Wieso? Wieso sollen sie für meine Fehler bezahlen?“ Frenetisch rüttelte sie an ihren Fesseln, trat mit aller Kraft nach Baldino. „Hast du eigentlich die geringste Ahnung, was du getan hast?! Wir konnten einen kleinen Ausbruch nur mit Mühe eindämmen, wenn es wieder freigesetzt wird, ist das das Ende der Welt!“
„Genau“, er lächelte melancholisch und hob seine Linke, deren Handfläche sich schwarz verfärbt hatte. Ein Muster, das wie gespaltener, trockener Boden aussah, breitete sich über den Unterarm aus. „Was spielt es noch für eine Rolle? Ich habe meine Familie verloren. Am Ende dieser Nacht werde auch ich tot sein“, seufzte er, kramte in seiner Umhängetasche und stellte ein portables Radio auf das Armaturenbrett. „So kannst du zuhören, wie deine Eltern, dein bester Freund, deine heimliche Angebetete und alles, was dir lieb ist, zum Anfang vom Ende wird.“ Damit reichte er ihr eine Büroklammer und schaltete das Radio ein. „Zeit für mich, zu gehen. Was in mir lauert soll dich nicht umbringen, sonst verpasst du noch den ganzen Spaß. Egal, wie schnell du die Handschellen knackst und den Zündschlüssel aus dem Wald fischst, es wird zu spät sein. Genieß die Show, Janet. Sie ist allein für dich.“
Er klopfte ihr auf die Schulter, knallte die Autotür zu und schritt davon. Und während der Nachrichtensprecher blechern von den ersten Spuren einer mysteriösen Epidemie in einem kleinen Städtchen im mittleren Westen erzähle, hielt Janet unkontrolliert weinend die Büroklammer.