Dreizehn Minuten nach Mitternacht. Das Plätschern des Gewitters sickert durch die doppelt verglasten Fenster des Schlafzimmers, der veraltete Radiator surrt wie ein Schwarm Maikäfer. Ich sitze in der Dunkelheit, irgendwo zwischen Schlummer und Wachzustand und drohe, zu einem jämmerlichen Klischee zu verkommen. Es zieht mich aus dem Bett, zurück an den Computer wo so manche Aufgabe auf mich wartet. Aber mir schwant, dass meine Erschöpfung es verdient ernstgenommen, statt unter Arbeit begraben zu werden. Nur heute, ausnahmsweise, will ich der Vernunft Tribut zollen und belasse meinen Kopf auf dem Kissen, widerstehe der Versuchung. In die Finsternis starrend werde ich von pubertärem Pathos überschwemmt. Müßiggang bekommt mir schlecht, soviel ist kristallklar. Entnervt schnaubend drehe ich mich auf die Seite, beäuge wehmütig die Fernbedienung auf dem Nachttisch. Ich könnte mir eine Dokumentation ansehen, dazu bräuchte ich nicht einmal aufstehen. Wenn ich schon dabei bin, könnte ich das schwache Licht des Fernsehers nutzen und meinen Skizzenblock mit namenlosen Gesichtern füllen. Das sanfte Kratzen des Bleistifts auf Papier verspricht Erlösung von der alles verschlingenden Einöde der Entspannung. Ich muss zugeben, die Idee ist verlockend, es wäre einfach meinen typischen Verhaltensmustern zu folgen, mich noch eine Weile vor dem Träumen zu drücken. Solange, bis ich vor Erschöpfung ohnmächtig werde und das Problem mit dem Schlafen sich von alleine löst. Nein! Meine Obsession mit konstanter Beschäftigung, stetiger Reizüberflutung ist lediglich der törichte Trugschluss, Produktivität mache mich immun gegen Reflexion. Zumindest hat man mir das beigebracht, ob es stimmt, ist eine andere Frage. All die Leute, die mir täglich zum Stillstand raten, zur Entlastung oder besser gesagt zu dem, was sie als solche empfinden, sind jedenfalls überzeugt davon. Ihre Worte dröhnen durch meine Gedanken, also bleibe ich liegen. Langsam, bewusst atme ich ein und aus, achte darauf, meine Lungenflügel gleichmäßig mit Luft zu füllen. Atmen hilft, meistens.
Einunddreißig Minuten nach Mitternacht. Mein Verstand verfällt in einen Freudentaumel, kreiert hinter geschlossenen Lidern .iff-Dateien, schreibt Codefetzen und erledigt nebenher die Wäsche sowie Zombiehorden. Nichtstun ist quälend, das weiß auch mein Gehirn, weshalb es mir fiktive Tätigkeit schenkt.
Gerade eben habe ich einen dürftig mit Altmetall gepanzerten Jeep erreicht. Ich bin verschmiert mit feuchter Erde, Blut und Eingeweiden und reisse, nach meinem Kumpel schreiend, die Autotür auf. Er wird es nie rechtzeitig schaffen, steht eingekesselt zwischen Untoten und einem maroden Zaun. Ich muss handeln, kann keine Sekunde länger warten. Ohne zu zögern packe ich den Morgenstern, kurble die Scheibe auf und trete kräftig aufs Gaspedal, um zu seiner Rettung zu eilen. Mit einem lauten Krachen zersplittern Zaunlatten wie Gebeine, Schädel bersten unter der schwungvollen Gewalt meiner Waffe. Es fällt mir schwer, in dem Chaos meinen Freund auszumachen, dessen Notrufe im gierigen Ächzen der hungrigen Meute untergehen. Eine schiere Unendlichkeit vergeht, bis ich seinen Arm entdeckte, der aus einem Berg verrotteten Fleisches hervorragt. Erleichtert seufze ich, erschlage einen weiteren Angreifer, bevor es mir gelingt, nach seiner Hand zu greifen, ihn aus der Misere zu befreien. Da setzt mein Herzschlag aus. Eine klaffende Wunde verunstaltet seine rechte Schulter, dann … Nein! So geht das nicht, ich sollte doch schlafen.
Achtunddreißig Minuten nach Mitternacht. Die gutgemeinten Ratschläge kreischen erneut los, ich solle mich erholen, bloß daliegen und die Ruhe genießen, für einmal weder an Arbeit noch absurde Abenteuer denken, mich driften lassen. Stell dir etwas Schönes vor, einen glücklichen Ort, einen Strand im Abendrot, haben sie mir gesagt. Vielleicht kann ich meine Fantasie um solch friedliche Bilder bemühen.
Die letzten Sonnenstrahlen liebkosen meinen Körper. Eingelullt vom hypnotischen Rauschen der Wellen, verweile ich auf einer Strandliege und beobachte den in schillernden Farben glühenden Himmel. Es ist still, mal abgesehen vom verzerrten Geräusch herbeigetragener Gespräche. Ich weiß, weshalb ich den Blick auf die Wolken fixiere, ich will mir die Aussicht auf schwitzende Touristen, die im strahlend weißen Sand herumstolpern ersparen. Mein Hintern klebt unangenehm am Plastik der Liege, dort, wo das Handtuch verrutscht ist. Partikel aus Kalziumkarbonat, eigentlich zerriebene Bestandteile von Korallen und Krustentieren, sowie einige Steinchen verwandeln meine salzverdreckte Haut in feines Schmirgelpapier. Ich kann es kaum erwarten, weg von diesem Strand, hinein in die klimatisierte Hotellobby zu kommen, wo mich unterbezahlte Angestellten bedienen, die nach ihrer Schicht zurück ins politisch und religiös zermarterte Elendsviertel spazieren, dann … Nein! Das bringt mich ebenfalls nicht weiter, die hübsche Touristenfassade kommt in meinem Geist zu stark ins Wanken.
Zweiundvierzig Minuten nach Mitternacht. Niemals ruhend gefällt mir das Leben, trotzdem halte ich im Zwielicht des Zimmers, meiner persönlichen Folterkammer inne, wartend auf den Schlaf, der meinen Synapsen Regeneration und mir Alpträume bescheren wird. Es gäbe vieles, das ich lieber täte, selbst die Steuererklärung oder leidige Kundenkorrespondenz wären eine willkommene Abwechslung zum tatenlosen Rumliegen.
Guten Tag, werter Herr Sowieso. Ich bedanke mich herzlich für Ihr Interesse an meinen Dienstleistungen sowie Ihre ausführliche Auftragsbeschreibung. Selbstverständlich würde es mich sehr freuen, Sie in den kommenden Monaten beim Aufbau Ihrer Firma begleiten zu dürfen und ich bin zuversichtlich, dass unsere gemeinsame Arbeit Früchte tragen kann. Im Vorfeld gilt es allerdings einige Details abzuklären, namentlich die Rahmenbedingungen des Auftragsverhältnisses. Zu Ihrer Orientierung habe ich im Anhang … Nein! Das ist ja noch schlimmer als der Strand, zudem habe ich morgen genügend Zeit für diese Floskeln.
Zwölf Minuten nach vier Uhr. Keuchend sitze ich bolzengerade inmitten von flauschigen Decken. Mein Puls rast, die Handflächen sind klamm und die Haare feucht. Ich hatte wohl wieder einen Alptraum, irgendetwas mit einem riesigen Haus, dessen endlose Flure mich von einer Tortur in die nächste führten. Wie üblich fehlt mir die exakte Erinnerung an das Erträumte, aber die physische Reaktion verrät, dass es sich kaum um eine gemütliche Reise handelte. Frustriert rutsche ich an den Bettrand, schalte das Smartphone ein und blinzle mit tränenden Augen auf den grellen Bildschirm. Einen Moment bin ich hin und hergerissen zwischen dem guten Vorsatz, wenigstens eine Nacht wie ein normaler Mensch zu schlafen und dem dringenden Bedürfnis, endlich hier rauszukommen. Meinen hektischen, inneren Dialog revuepassierend, stoße ich schließlich auf die perfekte Ausrede: ein dringendes Bedürfnis! Rasch, ehe ich es mir anders überlegen kann, springe ich auf und renne zur Toilette, während draußen ein neuer Tag voller entspannter Arbeit beginnt.