„Du hast dich verfahren, Häschen“, frotzelte Mary Lou und zupfte am Sicherheitsgurt, der ihr in die Brust einschnitt. Wortlos nahm Joss den letzten Zug seiner Lucky Strike und schnippte den Stummel hinaus in den Schnee, bevor er das Fenster des alten Dodges hochkurbelte. „Du hast einen lausigen Orientierungssinn, wir hätten vorhin an der Tanke nach dem Weg fragen sollen. Gib’s zu!“ Joss linste müde zu seiner hochschwangeren Angetrauten, der Abdruck ihres Bauchnabels war unter dem hellblauen Pulli zu erkennen. Eigentlich war sie es, die etwas zuzugeben hätte, doch er war die ständigen Streitereien leid, also erklärte er erneut geduldig den Weg:
„Wir sind auf der Route Ninety, einen anderen Highway gibt es in der Einöde nicht.“ Er schwieg eine Weile, genoss die Wärme, die aus der Lüftung strömte und das abendliche Farbenspiel des Sonnenuntergangs, das dem Mittleren Westen einen Hauch Magie verlieh.
„Wir werden ja sehen.“ Mary Lou gähnte kopfschüttelnd. „Ich muss mal, halt an.“
„Okay“, brummt Joss, lenkte den Wagen an den Straßenrand und hastete in die Kälte, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. „Das ist die vierte Pinkelpause seit wir losgefahren sind und wir sind gerademal eine Stunde unterwegs“, feixte er und hielt seine Frau an beiden Händen fest, damit sie in die Hocke gehen konnte. „Du hättest zu Hause bleiben sollen, in deinem Zustand gehörst zu ins Bett.“
„Jaja“, stöhnte Mary Lou, pflückte ein Taschentuch aus ihrem BH und wischte ab. „Das habe ich schon irgendwo mal gehört.“ Ächzend hievte sie sich hoch und kicherte: „Ach ja, von dir.“
„Weil ich recht habe, mein Nougat-Nüsschen“, erwiderte Joss, begleitete sie auf den Beifahrersitz und setzte sich danach ans Steuer.
„Kannst du dir wirklich vorstellen, wie ich daheim rumliege, mich mit Essiggurken und Nutella vollstopfe und mir romantische Komödien auf Netflix anschaue, wenn du dich ums Geschäft kümmerst?“ Als er den Zündschlüssel drehte, streckte sie sich nach seiner Zigarettenschachtel, ließ allerdings sofort davon ab und verzog den Mund zu einer Schmollgrimasse. „Gott, ich freu’ mich darauf, wenn ich endlich wieder rauchen darf!“
„Zumindest bist du damit vernünftig“, meinte er zufrieden und fügte beschwichtigend an: „Lange dauert es ja nicht mehr.“
„Ja. Wer hätte gedacht, dass ein Braten im Ofen so viele Umstände macht?“ Sie näherten sich einer engen Kurve und Mary Lou klammerte sich an den Haltegriff, um nicht auf Joss’ Schoß zu landen. „Es ist lächerlich“, nörgelte sie vor sich hin. „Ich habe mich von nichts aufhalten lassen, nicht einmal damals, als mir einer von Harods Speichelleckern in den Arsch geschossen hat“, ereiferte sie sich und gab ein trotziges Geräusch von sich. „Ich war eine toughe Bitch, eine Granate, nein …“, sie hob den Zeigefinger, „… eine verfluchte Gangstergöttin!“
„Zweifelsohne.“ Joss nickte schmunzelnd und tätschelte ihren Oberschenkel. „Das bist du noch.“ Sie passierten ein beleuchtetes Ortsschild, auf dem ein Hirsch mit Kulleraugen abgebildet war, sie hatten knapp die halbe Strecke nach Betham hinter sich.
„Erzähl keine Scheiße. Fett wie ich bin, tauge ich zu nix“, klönte Mary Lou und öffnete das Handschuhfach. Ihre .45er fiel auf den Boden und sie kickte die Waffe nonchalant unter den Sitz, ehe sie nach den Kaugummis suchte. Ganz unrecht hatte sie nicht, auch wenn Joss das nie laut sagen würde. Normalerweise hätten sie die Strecke nach Betham auf ihren Harleys zurückgelegt, das bisschen Schnee wäre für ihre Böcke kein Problem gewesen. Er hörte die Jungs jetzt schon lachen, wer mit einem Vierräder zum Clubtreffen kam, beschwor den Spott herauf. Aber Joss war das recht, sollten die Arschlöcher nur über den Dodge witzeln, statt Fragen zu stellen, weshalb Mary Lou nun doch noch schwanger geworden ist. Sie behauptete weiterhin, die künstliche Befruchtung habe aus unerklärlichen Gründen ein wenig später als üblich angeschlagen. Er blieb skeptisch, erinnerte sich argwöhnisch an ihren Besuch beim Bandenboss, den sie erst geheim gehalten hatte. „Du widersprichst mir nicht?“, riss sie ihn aus den Gedanken und verpasste ihm eine Kopfnuss, die er in der hereinbrechenden Dunkelheit nicht kommen gesehen hatte.
„Au! Fahrer werden nicht geschlagen“, protestierte er. „Oder willst du, dass ich uns mitten in der Pampa um einen Baum wickle?“
„Ach, halt die Klappe.“ Sie grinste breit, lehnte sich wohlig seufzend gegen den Sitz und rieb sich über den Bauch. Da schoss sie plötzlich nach vorne, deutete durch die Windschutzscheibe auf eine Bergkette und rief: „Da! Guck!“ Eine Sternschnuppe erhellte den Himmel, funkelte beinahe unnatürlich golden und Joss schloss für eine Sekunde die Augen, um sich etwas zu wünschen.
„Fahr, fahr, fahr!“, brüllte Mary Lou, warf eine Papiertüte in den Fußraum und ihre Knarre auf den Rücksitz und kämpfte mit dem Sicherheitsgurt. „Verficktes Scheißding!“ Joss langte zu ihr rüber, hakte die Schnalle ein und trat aufs Pedal, während ein laut fluchender Ladenbesitzer über den Parkplatz rannte und ungeschickt Patronen in seine Schrotflinte lud. „Fahr!“
„Ist ja gut“, nuschelte er und bretterte über den Bordstein auf die Landstraße. „Der holt uns niemals ein.“ Er hatte es für keine kluge Idee gehalten, dass Mary Lou mit in den Schnapsladen gekommen war. Sie hatte sich leider nicht überzeugen lassen und darauf bestanden, beim Überfall dabei zu sein. Ein letztes Mals Spaß wollte sie haben, bevor das Kind da war.
„Woohoo“, kreischte sie fröhlich, klatschte und hüpfte nahezu auf dem Beifahrersitz und ab. „Ich liebe dich, Häschen.“
„Ich dich auch, Nougat-Nüsschen.“ Lächelnd zog er die Skimaske aus und nahm die nächste Abzweigung in Richtung Betham. Die gemeinsamen Raubzüge mit Mary Lou würde er vermissen. Er kostete den ausgelassenen Moment aus, hielt zu gerne an den guten alten Zeiten fest, denn bald stünde er dem Mann gegenüber, den er verdächtigte, seine Frau geschwängert zu haben.
„Oy“, tönte sie beeindruckt. Sie zog einen ordentlichen Stapel Scheine aus der Papiertüte und freute sich: „Damit können wir in einem Fünf-Sterne-Laden absteigen.“
„Schön wär’s.“ Die Lichter der Stadt erschienen am Horizont, der Verkehr verdichtete sich, auch zu dieser späten Stunde war Betham ein lebendiger Ort, die Luft knisterte regelrecht. Er war etliche Male hier gewesen, aber die Stadt hatte sich verändert, sie war härter, chaotischer geworden, und das für übermorgen geplante Bandentreffen machte es nicht einfacher, sich zu verstecken. „Ein Hotel ist zu riskant. Es wimmelt nur so von Harods Leuten“, gab er schließlich zu bedenken. „Wir müssen den Kopf unten halten, wenn wir keine Kugel zwischen die Augen wollen.“
„Meine Güte, was bist du paranoid“, meckerte Mary Lou und blätterte durch das Geldbündel. „Wie wäre es mit einem Bed and Breakf…“ Sie hielt inne und wimmerte schmerzverzerrt.
„Was ist?“ Joss wandte sich ihr zu, ihre gekrümmte Haltung besorgte ihn und er verlangsamte den Wagen. „Nougat-Nüsschen?!“
„Verdammte Fickscheiße“, presste sie gequält hervor. „Ich glaube, meine Wehen haben eingesetzt. Das, oder das Drecksbalg spielt mit meinen Eingeweiden Handball.“
„Äh“, stammelte Joss überfordert, drosselte die Geschwindigkeit weiter, murmelte unverständliche Laute, dann stieg er aufs Gas, raste auf die Innenstadt zu und schrie: „Krankenhaus! Du musst sofort ins Krankenhaus! Wir fahren jetzt ins Krankenhaus. Ja, das Krankenhaus ist …“
„Joss!“, fuhr ihm Mary Lou ins Wort. „Joss, beruhige dich und hör zu.“ Sie quietschte, auf ihren Bluejeans breitete sich ein dunkler Fleck aus, und sie hatte sichtlich Mühe zu sprechen. „Das Krankenhaus ist keine Option, schon vergessen, Häschen? Möchtest du, dass mich die Bullen direkt nach der Geburt mitnehmen und ins Loch werfen?“
„Shit, shit, shit“, zischte Joss nervös aufs Lenkrad trommelnd. „Wo gehen wir hin? Shit, wohin sollen wir, du kannst das Kind ja schlecht im Auto bekommen, ich habe keine Ahnung, wie man da…“
„Dan!“, stieß Mary Lou aus und fuchtelte wie wild, nahm Joss’ Handy von der Konsole und jaulte schwer atmend: „Dan, ruf Dan an!“ Er war einer der Fluchtwagenfahrer, die der Boss bei größeren Jobs engagierte und wohnte am Stadtrand.
„Oh Gott, oh mein Gott“, stotterte Joss, nahm das Telefon und blickte hektisch zwischen dem Display und der Straße hin und her. Sie hätten sich besser auf die Ankunft ihres Kindes vorbereiten sollen, naja, sie hatten es versucht, allerdings war ihnen immer wieder etwas dazwischengekommen. Der Job, ihre Streitereien und der darauffolgende Versöhnungssex, irgendwie war alles andere wichtiger gewesen als sich hinzusetzen und zu überlegen, wie sie für ihr Baby sorgen könnten. Er fand Dans Telefonbucheintrag, tippte den Namen an und zu seiner Überraschung ging der Kleinkriminelle nach bloß einem Läuten ran.
„Joss, du alter Drecksack“, plärrte es über den Lautsprecher. Im Hintergrund war Partylärm zu hören, Dan hatte wohl ein volles Haus. Wahrscheinlich war die Gang gerade dabei, Dans Hütte auseinanderzunehmen, die feierwütige Bande war schlecht zu kontrollieren. „Ich dachte, ich hör’ erst morgen vor dem Clantreffen von dir, was ist de…“
„Dan! Dan, hast du Platz für uns?“ Joss setzte den Blinker für die nächste Ausfahrt und Mary Lou grunzte unterdrückt. „Meine Alte ist schwanger und wir brauchen dringend eine Bleibe. Wir haben auch Kohle.“ Es raschelte in der Leitung, der Angesprochene unterhielt sich mit jemandem, ehe er verneinte.
„Sorry Mann, bei mir ist alles voll. Außer ihr wollt in die Garage. Ich könnt euch ein paar Kisten wegstellen, die Geräte stören euch ja nicht“, bot Dan an, er lallte bereits merklich, überhaupt war es Joss nicht geheuer, seine gebärende Frau in ein Methlabor zu bringen, aber welche andere Wahl hatte er?
„Okay, wir sind gleich da. Danke dir, Dan.“ Er rieb sich übers Gesicht, da fiel ihm ein, sie könnten Glück im Unglück haben. „Johnny ist nicht zufällig bei dir?“ Sie nannten ihn den Schlächter, Johnny hatte so seine Art, unwillige Leute zum Reden zu bringen, eine Art, vor der man sich in Acht nehmen sollte. Doch was es dem Henker des Clanboss’ an Mitgefühl fehlte, machte er mit seinen medizinischen Kenntnissen wieder wett.
Mary Lou strahlte, nie zuvor hatte er sie so glücklich gesehen. Ihr Sohn schlief friedlich in ihren Armen, er hatte lediglich kurz nach der Geburt geweint, seither war er völlig entspannt und Joss könnte schwören, dass der Säugling selig lächelte, auch wenn das unmöglich sein sollte. Sie hatten ihn Jesse getauft und er war die Hauptattraktion der Bikerparty, alle wollten das kleine Wunder begutachten, sogar der Boss höchstpersönlich war zu Dans Bude gefahren, um ihnen zu gratulieren und die drei Chapter-Captains hatten ihnen Geschenke mitgebracht. Joss hockte sich neben seine Liebste, strich ihr über den Nacken und gab ihr einen Kuss. „Er ist wunderschön.“
„Das ist er“, hauchte sie zart und drückte das Kind näher an sich.
„Nougat-Nüsschen, ich denke, es wird Zeit“, begann er, senkte den Kopf und sprach aus, was er schon längst hätte sagen sollen: „Wir müssen aussteigen, das hier ist kein Leben für einen kleinen Knirps.“ Joss machte eine ausladende Geste durch das Methlabor um seinen Standpunkt zu unterstreichen, indes lachte Mary Lou hell und winkte ab.
„Keine Sorge, er wird ein wunderbares Leben haben, das weiß ich. Unserem kleinen Jesse steht großartiges bevor, ganz bestimmt.“ Sie schmiegte ihre Wange an das Baby, schnupperte an seinen dunkeln Haaren und jauchzte: „Es fühlt sich an, als wäre er der Auserwählte, derjenige, der Frieden bringt und die Clans vereint.“
Joss gluckste amüsiert. „Ich glaube, Johnny hat dir zu viel Schmerzmittel gegeben.“
„Ach was, Häschen. Ich bin eine toughe Bitch, von ein paar Tabletten werde ich nicht high“, entgegnete sie, boxte Joss auf den Oberarm und meinte: „Wie gesagt: Ich weiß das. Eine Mutter weiß sowas.“
„Tja nun, wenn du das sagst, wird es wohl stimmen.“ Er beugte sich vor, legte seine Stirn an die seines Jungen und flüsterte: „Willkommen auf der Erde, du Erlöser aller Biker.“