Erwach(s)en

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Sie hatte irgendwann mal gelesen, dass es einem in die Wiege gelegt wird, ob man ein Morgen- oder ein Nachtmensch ist. Als Marie sich vor wenigen Minuten in ihr neues Auto gesetzt hatte, war der Himmel noch in ein dunkles Blau gehüllt und nur wenige helle Flecken verrieten die Sonne, die hinter dem Horizont auf ihren allmorgendlichen Auftritt wartete. Als sie die schmalen Quartierwege verließ und auf die Hauptstraße abbog, kramte sie etwas ziellos in ihrem Handschuhfach, um nach einem Kaugummi zu greifen. Marie war kein Morgenmensch und doch liebte sie die frühen Morgenstunden, nahm sich jeden Tag Zeit dafür sie bis aufs Letze auszukosten. Ihre Routine war stets dieselbe; ihr Wecker klingelte zuverlässig um halb fünf Uhr und sagte ihr mit seinem hartnäckigen Piepsen, dass sie in spätestens zehn Minuten ihr warmes Bett würde verlassen müssen. Ihre erste Handlung nach der üblichen Morgentoilette war das Zubereiten einer deftigen Suppe – bisher die einzige Frühstücksvariante, die sie tolerieren konnte –, welche sie meist etwas lustlos auf dem Sofa aß, während dem sie versuchte den Nachrichten zu folgen. Danach setzte sie sich, bei jeder Witterung, mit einer Tasse Kaffee auf ihren kleinen Balkon und betrachtete, wie das Dorf allmählich erwachte. Sie hatte über die Jahre gelernt, diese ruhigen Minuten zu lieben, sie zu schätzen und ihnen eine persönliche Bedeutung zu verleihen.

Als sie die erste große Kreuzung hinter sich gelassen hatte, stellte Marie fest, dass sie ganz vergessen hatte, das Radio einzuschalten und anstelle davon, die Stille wie immer durch das fließende Gerede des Discjockeys zu unterbrechen, öffnete sie das Fenster der Beifahrerseite ein wenig und lauschte der vorbeirasenden Landschaft. Es war nun knapp halb sieben Uhr und ihr Lieblingssender würde gerade die Esoterik-Lady und deren Tagesvorhersagen ausstrahlen; vergeudete Sendezeit, auf die Marie ohnehin gut verzichten konnte. Der Morgen hellte sich immer weiter auf und der Kontrast zwischen den Wolken und dem blassgrauen Himmel wurde stärker; vielleicht würde es später noch regnen und Marie war froh, dass sie heute in der Früh daran gedacht hatte, ihren uralten und wuchernden Weihnachtsstern doch noch in die Stube zu tragen und ihren geblümten Regenschirm einzupacken. Wie jeden Morgen wurde Marie von einigen zackig fahrenden Autos überholt und sie musste jedes Mal heimlich grinsen, wenn sie diese dann später am Bahnübergang wartend wieder einholte. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie zum ersten Mal um diese Zeit autogefahren war, keine drei Tage nachdem sie ihren Führerschein gemacht hatte, und wie sehr sie sich hatte einreden müssen, dass sie eine hervorragende Fahrerin war, nur um nicht noch ängstlicher zu werden. Damals hatte sie gerade erst ihre Ausbildung abgeschlossen, hatte noch Schuhe mit hohen Absätzen getragen und ihre Abende damit verbracht, mit ihren Freundinnen durch die Gegend zu ziehen. Es war schon komisch, wie sehr sich das eigene Leben verändern konnte, ohne dass man das überhaupt bemerkte. Nun bewältigte sie die dreiviertelstündige Fahrt zum Labor ohne darüber nachzudenken und wusste zu jeder Jahreszeit bereits im Voraus, wo sie wäre wenn die Sonne aufgeht. Ihre High Heels standen nur noch dekorativ im Schuhregal und mussten bequemeren Turnschuhen weichen und abends vergnügte sie sich meist im Schein ihrer Leselampe mit einem Buch, besonders dann, wenn das Fernsehprogramm mal wieder nicht ihren Geschmack traf.

Kaum hatte Marie die Autobahnauffahrt passiert, sah sie auch schon die Rücklichter, die ihr deprimierend durch den leichten Nebel entgegenschienen; natürlich würde sie auch heute wieder in den Stau kommen. Sie überlegte sich erneut, ob sie nicht doch in die Nähe der Stadt ziehen wollte, nur um diesem allmorgendlichen Ritual zu entkommen. Diesen Gedanken hatte sie in den letzten Jahren schon oft gehabt und wahrscheinlich wäre es wirklich eine gute Idee, ihrem abgeschiedenen Wohnort den Rücken zuzukehren, selbst wenn sie dies nur ungern tun würde. Marie schaltete in den ersten Gang, beschloss in der stehenden Kolonne den Motor abzustellen und betrachtete sich etwas ungläubig im Rückspiegel, rümpfte ihre Nase und streckte sich selbst gespielt giftig die Zunge heraus. Der Tag war nun endgültig angebrochen und Maries innere Ruhe wurde durch das geschäftige Treiben um sie herum etwas aus dem Takt gebracht. Sie war nun wirklich kein Morgenmensch, dennoch zog sie die ganz frühen Stunden dem restlichen Tag vor; morgens, bevor die Welt erwachte, zog der friedliche Duft von frisch gewaschener Luft durch die laternenbeleuchteten Straßen und das Gefühl, die erste zu sein, die diesen Geruch einatmet, war unvergleichbar beruhigend. Marie hatte immer schon den Eindruck gehabt, dass das Leben am Morgen noch unberührt und unschuldig war, die Menschen begannen einen neuen Tag und ihre Sorgen blieben für kurze Zeit unter dem schläfrigen Schleier ihrer nächtlichen Träume versteckt.

Ein scharfes Hupen riss sie zurück in die Blechlawine. Hastig startete sie ihr Auto und fuhr die wenigen Meter bis zu der Stoßstange vor ihr und ihre Vorfreude wuchs an, als sie sich plötzlich daran erinnerte, dass heute nach dem Mittagessen die neuen Mikroskope geliefert werden. Sie blickte sich kurz um, um sicherzugehen, dass sie nicht sofort würde losfahren müssen und zog ihren Lippenstift aus der Handtasche und trug ihn sorgfältig auf, während sie der ältere Herr im Wagen neben ihr aufmerksam dabei beobachtete. Gepackt von kindlichem Übermut drehte sie sich abrupt in seine Richtung und starrte ihm mit zusammengekniffenen Augen und vorgeschobenen Unterkiefer an und musste laut lachen, als sich der Angestarrte erschrocken und beschämt wegdrehte.

Bald schon wurde die Distanz zwischen den einzelnen Autos wieder grösser und der Stau löste sich so schnell auf, so dass man sich wunderte, wie er überhaupt entstanden war. Es ging nun nicht mehr lange und Marie würde ihren Arbeitsplatz erreichen. So wie jeden Tag würde sie ihre Kollegen freundlich begrüßen und ihre zweite Tasse Kaffee mit ihnen gemeinsam trinken, währendem Neuigkeiten und Geläster ausgetauscht werden. Danach wartete schon ihr Labor auf sie und kaum hätte sie ihren Mantel an den Hacken hinter der Tür aufgehängt, wäre es auch schon bald wieder an der Zeit, sich für den Heimweg vorzubereiten. Ihr Leben war einfacher als sie sich das jemals hätte vorstellen können und doch war es auf so verzwickte Weise kompliziert. Sie war nun beinahe fünfunddreißig – fünfunddreißig, man stelle sich das vor –, dennoch fühlte sie sich meistens nicht anders, als wäre sie gerade erst zwanzig. Sie war sich immer noch oft unsicher, ob sie wirklich qualifiziert genug war für ihren Beruf in der Pharmaindustrie, die sie als Jugendliche so sehr verabscheut hatte, obwohl ihre Leistungen immer gelobt wurden. Und es gab immer noch Tage, an denen sie sich der Welt am liebsten verweigern würde, in der dummen Annahme, dass dieses Verhalten nicht nur für sie, sondern auch für andere etwas verändern würde.

Wenn man jung ist, weiß man den Wert der eigenen Träume zu schätzen; man hegt und pflegt sie und man ist bereit, sie auch dann mit Priorität zu behandeln, wenn es einem schadet. Wird man älter, verfliegen diese Träume meist und was man bis dahin nicht erreicht hat, glaubt man nie mehr erreichen zu wollen oder nicht mehr erreichen zu können. Marie hatte viele ihrer Ziele vergessen, andere hatte sie erfüllt und wieder andere waren schlichtweg zu hoch gesteckt, sodass sie sich schweren Herzens davon hatte verabschieden müssen. Doch als sie sich im Rückspiegel betrachtete, währendem das Wetter immer mehr zu einem grauen Herbsttag zu zerfließen drohte, musste sie glücklich seufzen. Sie war vielleicht noch immer nicht die Erwachsene geworden, die sie vor fünfzehn Jahren hätte werden wollen und sie war zum Schluss gekommen, dass das Erwachsensein weder das ist, was man sich als kleines Kind vorgestellt hatte, wenn man seine Eltern während eines Brettspiels ehrfürchtig beobachtet, noch den hoch gesteckten Illusionen nahe kommt, die man sich während der Jugend ausmalt. Marie war ein normaler Mensch mit durchschnittlichen Problemen geworden, einer jener gesichtslosen Menschen, die uns jeden Tag begegnen und die irgendwann genauso verschwinden wie ihre Träume und dennoch einfach glücklich darüber sind, zusammen mit ihren sturen Weihnachtssternen zu wachsen und sich freuen, die freundliche Morgenluft zu wittern, obwohl sie nun wirklich keine Morgenmenschen sind.

Als sie ihre Arbeitskollegin sah, die etwas verloren unter dem Parkplatzdach stand, lächelte Marie freundlich, eilte mit ihrem Regenschirm zu ihr und konnte es sich nicht verkneifen, in eine der kleinen Pfützen neben ihr zu springen.

Autorin: Rahel
Setting: Auto
Clues: Weihnachtsstern, Mikroskop, Leselampe, Brettspiel, Esoterik
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