Warnung: Diese Kurzgeschichte enthält Szenen, die auf einige Leser beunruhigend wirken könnten. Mehr zu unseren Warnungen sowie wann und weshalb wir sie anwenden, erfahrt ihr in unseren FAQ.
Ich hätte heute besser kein Schnitzel essen sollen, ich fühle mich mehr als bloß ein bisschen satt. Doch ich kann nicht leugnen, dass ich das Essen genossen habe und nun mit einem zufriedenen Gefühl die Glastür mit dem weißen Metallrahmen aufstoße. Ich mag es, nach Einbruch der Dunkelheit durch den großen Wintergarten zu schlendern, ohne das Licht anzumachen. Dieser kalte, stürmische Oktoberabend scheint mir besonders dafür geeignet. Mein persönlicher Urwald wird nur durch die beiden EXIT-Schilder erleuchtet, die an beiden Enden des vielleicht zwanzig Meter langen Glashauses angebracht sind. Die Scheiben reflektierten den grünen Schimmer kaum, sodass ich durch die Pflanzen hindurch freie Sicht darauf habe, was sich draußen abspielt. Nicht, dass sich hier viel abspielen würde, das alte Herrenhaus, das zu dem der Wintergarten gehört, liegt weitab von dem nächsten Anwesen – ich mag die Ruhe. Durch die nahen Fenster zu meiner Linken ist die idyllische Hügellandschaft zu erkennen, weit unten das Strässchen und der gelbe Schein einer einsamen Laterne neben dem alten Birnbaum.
Aus den Lautsprechern erklingt Beethovens Egmont-Ouvertüre, die Lautstärke gewohnt laut, wie immer, wenn ich mich in mein „Sanctum Sanctorum“ zurückziehe. Seit dem Tod meiner Eltern lebe ich ganz alleine in dem großen Haus, irgendwie habe ich es nicht übers Herz gebracht, es zu verkaufen, obwohl es für mich alleine regelrechte Verschwendung ist. Ich humple die letzte der drei Stufen hinunter auf die unebenen Waschbetonplatten. Die darin eingelassenen Steinchen sind nicht unbedingt geeignet für meine Bleistiftabsätze, wenn ich sowieso wegen einer alten Verletzung nicht schnell gehen konnte. Na, wenigstens ist das ärmellose Abendkleid passend zu der subtropischen Luft. Wieso habe ich vergessen mich umzuziehen, nachdem meine Gäste aufgebrochen sind? Allerdings habe ich nicht die geringste Lust, das jetzt nachzuholen, also gehe ich vorsichtig weiter durchs Halbdunkel auf die Bank zu, die am anderen Ende der Anlage steht, gerade weit genug vom EXIT-Schild entfernt, sodass es mich nicht blendet. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen, um nicht zu straucheln und frage mich, ob ich die vermaledeiten Schuhe nicht einfach ausziehen und meine Knie schonen soll.
Ich bin erst in der Mitte des Wintergartens angelangt, als mich jemand von hinten packt und mir eine große Klinge an die Kehle hält. Mein Körper erstarrt, ich will schreien, stattdessen verkrampft sich meine Kehle. Er ist um einiges grösser als ich, ich höre seine schweren, lauten Atemzüge trotz der Musik neben meinem Ohr, während er mich mit dem anderen Arm so um die Taille packt, dass ich mich kaum mehr loswinden kann.
Tausend Gedanken zucken mir innert der Sekunden durch den Kopf, in denen er da steht, schweigt, sich nicht rührt. Alles Wertvolle ist im Haus, wieso nimmt er sich nicht einfach, was er will und verschwindet dann? Wie kam er überhaupt an der teuren Alarmanlage vorbei, ohne dass ich etwas bemerkt habe? Das kann doch einfach nicht sein, wieso zum Teufel passiert mir so etwas? Vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein, immerhin hat die westliche Popkultur einiges dazu getan, dass ich mich ständig vor unwahrscheinlichen Szenarien fürchte. Ich will aufwachen, aber ein Teil von mir weiß genau, dass das kein Traum ist, dass das jetzt geschieht, zu Beethovens Klängen, an dem Ort, an dem ich mich seit meiner Kindheit zurückziehe, in meinem verfluchten persönlichen Heiligtum! Mir fällt auf, dass ich zittere, ich will weglaufen, will kämpfen, will …. Ich kann nicht, das EXIT-Schild hängt einige Meter vor mir und verhöhnt mich, spottet meiner Lage. Meine Hände verkrampfen sich in dem lächerlichen Versuch, mir ein letztes Fitzelchen an Selbstsicherheit zu geben, es gelingt mir nicht, ich bin den Tränen nahe. Wird er mich umbringen? Wieso sagt er nichts, steht einfach da, hält mir den geschliffenen Stahl an den Kehlkopf? Soll ich losrennen, sobald ich eine Chance dazu sehe?
„Was wollen Sie?“ Ich klinge noch weinerlicher, als ich befürchtet hatte. Für den nächsten Satz versuche angestrengt, meiner Stimme mehr Überzeugung zu verleihen. „Nehmen Sie sich, was Sie wollen und lassen Sie mich los!“ Natürlich scheitere ich kläglich, ich bin noch nie gut darin gewesen, meine Angst zu verbergen und er muss sie bemerken, sie ist nicht zu überhören.
„Ich habe, was ich will.“ Eine tiefe, gebieterische Stimme, ruhig, zufrieden. Eine Stimme, die ich noch nie zuvor gehört habe. Die Gewissheit, dass meine dunkle Vorahnung zutrifft. Er nimmt das Messer von meiner Kehle, umfasst meinen Hals mit der linken, behandschuhten Hand – ich kann das kühle Leder fühlen, röchle, er drückt nicht weiter zu. Wieder schaue ich auf das EXIT-Schild, spanne mich an. Es sind vielleicht acht, zehn Meter, die mich von meinem Fluchtweg trennen, doch er hält mich fest. Ich weiß nicht, wo das Messer ist und bin ziemlich langsam, so lange er keine Behinderung hat, wird er mich einholen. Draußen ist es kalt, weit und breit kein anderer Mensch, der mir helfen könnte, wie nicht einmal eine Versteckmöglichkeit. Wieso habe ich nie Selbstverteidigungskurse belegt?
Langsam, ganz vorsichtig, schlüpfe ich aus einem meiner hohen Schuhe, dann aus dem nächsten. Wenigstens kann ich barfuß schneller rennen, ich brauchte etwas, auf das ich mich konzentrieren kann, etwas anderes als …
„Wenn du mir gehorchst, wirst du nicht sterben.“ Ich halte inne, nicke so gut es mir mit der Hand an meiner Kehle gelingt. Kann ich ihm glauben? Es spielt keine Rolle, ich hatte kaum eine andere Wahl, als mein Glück zu versuchen. Was für eine unpassende Ausdrucksweise, mit Glück hat das Ganze nichts zu tun.
Als das Crescendo erklingt, kann ich die Rückseite der Klinge an meinem Rücken spüren. Ein schneller Schnitt, das Reißen von Seide und mein Kleid rutscht an mir herunter, fällt zu meinen Füßen auf den Boden. Ich kann es nicht sehen, nur fühlen, alles was ich erkennen kann, sind die Umrisse der Blätter einer Euphorbie gegen das grünliche Licht, das fälschlicherweise Rettung verspricht. Die Unterhose wird mir als nächstes abgerissen, ich stehe still, habe aufgegeben, sehe keinen Ausweg. Dann, zuletzt, schneidet er mit einer scheinbar routinierten Bewegung durch meine BH-Träger, ich kann trotz der Musik ein leises Schnappen hören, bevor ich komplett nackt dastehe, fest von seiner Lederhand umklammert. Ich muss mich auf etwas anderes konzentrieren, kann nicht daran denken …
Ein harter Stoß, ich strauchle, falle hin, schlage mir meine Knie auf den kleinen Steinchen der Waschbetonplatten auf, lande mit den Händen im Humus, den ich vor einigen Tagen aufgelockert hatte.
„Bitte“, röchle ich, schnappe nach Luft, kann beinahe sofort wieder das Messer an meiner Kehle fühlen, als er sich über mich beugt und den Reissverschluss seiner Hose aufmacht. Er lacht, weiß, ich bin nicht in der Position, etwas zu verlangen, bin ausgeliefert. Seine Lippen kommen meinem Ohr ganz nah, streifen es und er flüstert: „Jetzt zier dich nicht so. Ist ja nicht so, als ob du noch Jungfrau wärst, du bist nur eine alte, reiche Schlampe.“ Ich kann den Hass und die Verachtung hören oder glaube es zumindest, doch mir fällt nichts anderes ein, als erneut herauszuwürgen: „Bitte …“ Habe ich mich richtig entschieden, nicht wegzulaufen? Mein Körper spannt sich wieder an …
„Noch ein Wort, eine Bewegung und es ist aus.“ Er klingt bestimmt, vollkommen gelassen – das kann nicht sein erstes Mal sein. Wieso mache ich mir darüber Gedanken? Meine Situation bleibt dieselbe. Ich schweige, schließe die Augen, verkrampfe meine Finger um die Erde und erwarte das Unvermeidliche. Sein Gewicht drückt mich tiefer nach unten, mein Gesicht ist in einem Farn, meine Haare verheddern sich in den Blättern, die kleinen Steinchen der Bodenplatten graben sich in meine Knie. Ich versuche die Schmerzen zu ignorieren, nicht zu weinen, nicht mehr zu betteln – keine Ahnung, wieso mir das wichtig ist, aber es gibt mir eine letzte Illusion davon, die Kontrolle über mich, mein Leben nicht komplett zu verlieren, den lächerlichen Gedanken, nicht dieses letzte Stück meiner Ehre zu verlieren. Wird er sein Wort halten, wird er mich nicht umbringen? Ich weiß es nicht, weiß nicht, was geschehen wird, nehme es hin, rede mir ein, dass es mir egal ist.
Mit jedem Stoß peinigen mich meine Knie mehr, ich versuche mich darauf zu konzentrieren statt auf das, was mit mir geschieht. Er stößt mich nach unten, drückt mein Gesicht in die Erde, bei meinem erschrockenen Aufschrei schlucke ich Dreck, röchle, huste. Ich kann hören, dass die Ouvertüre zu Ende ist und von neuem beginnt, als er kommt – acht Minuten, dreißig Sekunden, seit ich auf „Play“ gedrückt habe, bevor ich in den Wintergarten getreten bin.
Der Fremde hat sich schnell erhoben, ohne etwas zu sagen und seine Hose zugemacht. Jetzt wirft er mir das Handset meines schnurlosen Telefons hin, wie man einem Hund ein Leckerli zuwirft, es landet neben mir auf dem Boden. Ich kann das gelbe Leuchten des Ziffernblocks zwischen den Blättern des Farns sehen. Zusammengerollt liege ich auf dem harten Stein, ich habe aufgehört zu zittern, mich zu bewegen, will einfach nichts mehr fühlen. Ich verstehe nicht mehr wirklich, was er sagt, außer, dass ich mich glücklich schätzen könne, jemanden wie ihn abgekriegt zu haben. Das Klappern des Messers, als er zu meiner anderen Seite wegwirft, erschrickt mich. Er braucht keine Waffe mehr, nimmt an, dass ich ihn nicht anzugreifen werde. „Du hast die Wahl.“ Es dauert einige Zeit, bevor ich verstehe, was er damit gemeint hat. Schwere Schritte, das Knirschen von Glasscherben und ein kurzer kalter Luftzug, als er die Außentür aufstößt.
Mein Körper fühlt sich taub an, es fällt mir schwer, mich zu bewegen, als ich mechanisch mit meinen schmutzigen Händen nach dem Telefon greife, es rutscht mir ab, fällt in die aufgekratzte Erde. Beim zweiten Anlauf halte ich es fester und gebe die drei Ziffern ein, die ich als Kind als allererste Telefonnummer gelernt hatte. Mein Daumen verharrt nicht länger als eine Sekunde über dem grünen Hörer-Symbol, dann drücke ich. Er hat mir die Wahl gegeben, der Sache ein Ende zu setzen, nicht zuzulassen, dass er das nochmals jemandem antun kann. Zum ersten Mal kann ich die Wut in mir spüren, den blanken Hass auf den unbekannten Menschen, den mir meinen sicheren Ort, meine Zuflucht genommen hat. Während ich mich aufrapple, auf die Treppe und das zweite EXIT-Schild zu strauchle, schwöre ich mir, dass ich nicht aufgeben werde, bis sie ihn fassen. Ich lebe noch! Ich lebe noch und muss ihn aufhalten! Ich brauche das jetzt, brauche die Kontrolle und will endlich hier raus. Das Freizeichen an meinem Ohr wird von einer ruhigen, professionell klingenden Stimme abgelöst. „Notrufzentrale, was ist ihr Notfall?“ Ich stoße mit letzter Kraft die Tür auf, rezitiere automatisch meinen Namen, meine Adresse und will sagen, was mir widerfahren ist, kann es nicht. „Kommt einfach“, krächze ich heiser, lege auf und breche auf den glatt polierten, weißen Marmorplatten zusammen, nackt, mit blutigen Knien und Erde im Gesicht. Immerhin verliere ich nicht das Bewusstsein, denke ich, als ich in Tränen ausbreche, das Läuten des Telefons ignoriere. Sie werden auch so kommen, alles was jetzt noch zählt, ist, dass ich überlebt habe.
Puh, harter Stoff. Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Gut geschrieben.
Hallo lieber Klaus,
Ja, von mir ist man sich eher Horror-Komödien gewohnt ;) Und vielen Dank für’s Lob, hat einige Überarbeitung gebraucht :)
Mit lieben Grüssen und den besten Wünschen
Sarah