Warnung: Diese Kurzgeschichte enthält Szenen, die auf einige Leser beunruhigend wirken könnten. Mehr zu unseren Warnungen sowie wann und weshalb wir sie anwenden, erfahrt ihr in unseren FAQ.
Ich hätte heute besser ein Schnitzel statt dem Salat essen sollen, davon wäre ich wenigstens satt geworden. Ich kann nicht leugnen, dass ich das Grünzeug bloß deswegen herunterwürgte, weil mir der reumütige Nachgeschmack des Weihnachtsessens noch auf der Zunge klebt, also stoße ich die Glastür mit dem weißen Metallrahmen mit knurrendem Magen auf. Ich mag es, nach Einbruch der Dunkelheit durch den großen Wintergarten zu schlendern, obwohl ich froh bin um die sanfte Beleuchtung beim Eingang. Dieser frostige, verschneite Januarabend scheint mir besonders gut dafür geeignet. Mein persönlicher Urwald wird zusätzlich durch die beiden EXIT-Schilder erleuchtet, die an beiden Enden des vielleicht zwanzig Meter langen Glashauses angebracht sind. Die Scheiben reflektieren den grünen Schimmer kaum, sodass ich durch die Pflanzen hindurch freie Sicht darauf habe, was sich vor meinem kleinen Refugium abspielt. Nicht, dass hier viel geschehen würde, das alte Herrenhaus, zu dem der Wintergarten gehört, liegt abgeschieden auf einem weitläufigen Grundstück – ich mag die Ruhe. Durch die nahen Fenster zu meiner Linken ist die idyllische Hügellandschaft zu erkennen, weit unten ein länglicher, zugefrorener See, in dem ich im Sommer meine Bahnen zu schwimmen pflege.
Aus den Lautsprechern erklingt Piotr Ilich Tchaikovskys Ouvertüre solennelle 1812, ein Meisterwerk, dessen kämpferische Klänge vom Künstler selbst verkannt, vom Publikum allerdings zu Recht bejubelt wurden. Die Kanonen dröhnen wie gewohnt laut durch mein „Sanctum Sanctorum“, genauso wie ich es liebe. Seit dem Tod meiner Eltern lebe ich ganz alleine in dem großen Haus, ich wollte es verkaufen, habe nur leider keinen Interessenten gefunden, der diesem Prachtbau würdig gewesen wäre. Häuser wie diese verdienen jemanden, der sie zu schätzen weiß. Ich humple die letzten drei Stufen hinunter auf die unebenen Waschbetonplatten. Die darin eingelassenen Steinchen stechen unangenehm in meine linke, nackte Sohle, die rechte läuft, geschützt durch einen schmalen Verband, weich. Ich war vom Pferd gefallen und mit dem Fuß im Steigbügel hängengeblieben, was mir immerhin eine unterhaltsame Geschichte bescherte, die ich heute Abend meinen Gästen vortrug. Gleich nachdem sie aufgebrochen waren, habe ich mich sofort umgezogen, das Abendkleid in die Ecke geschleudert und mich in meinen zerfledderten Pyjama gehüllt. Nur die Stubenschuhe habe ich vergessen, allerdings habe ich nicht die geringste Lust, diese jetzt zu suchen, also gehe ich vorsichtig weiter durchs Halbdunkel auf die Bank zu, die an der langen Glasfront steht, nahe genug am EXIT-Schild, wo es genügend Licht zum Lesen gibt. Behutsam schreite ich vorwärts, um nicht zu straucheln und frage mich, wann der Arzt mir endlich erlauben wird, wieder zu reiten.
Ich bin erst in der Mitte des Wintergartens angelangt, als mich jemand von hinten packt und mir eine große Klinge an die Kehle hält. Mein Leib gefriert augenblicklich, kurz darauf brülle ich aus vollen Lungen los. Er ist um einiges mächtiger als ich, ich kann das Heben und Senken seines breiten Brustkorbs gegen meinen Rücken gepresst fühlen, während er mich mit einem Arm so um die Taille packt, dass ich mich nicht mehr loswinden kann. Meine instinktiven Versuche, mich in dieser Umklammerung umzudrehen, mich ihm mit einem kräftigen Schlag aufs Nasenbein zu entledigen, scheitern.
Tausend Gedanken zucken mir innert der Sekunden durch den Kopf, in denen er da steht, schweigt, meine Gegenwehr mühelos unterbindet. Alles Wertvolle ist im Haus, er könnte sich einfach nehmen, was er will und dann verschwinden oder will er von mir wissen, wo der Safe ist? Wieso habe ich bloß nicht auf meine Freunde gehört, als sie mir dazu rieten, ich solle mir eine Alarmanlage anschaffen? Ich habe sie für diesen Vorschlag ausgelacht, ihnen vorgehalten, sie wären durch die westliche Popkultur dazu verführt, sich vor unwahrscheinlichen Szenarien zu fürchten. Nun passiert mir so etwas und zum zweiten Mal in dieser Woche falle ich vom hohen Ross. Ich will aufwachen, aber weiß ich genau, dass das kein Traum ist, dass das jetzt geschieht, zu Tchaikovskys musikalischer Untermalung der Unabhängigkeit, der Rebellion, an einem Ort, der seit meiner Kindheit mein persönliches Heiligtum ist! Mir fällt auf, dass ich zittere, meine Muskeln werden ob der Anstrengung müde, dennoch kann und will ich mich nicht fügen … Mein Körper lässt es nicht zu, verliert nach und nach an Kraft. Das EXIT-Schild hängt einige Meter vor mir und zündet Hoffnung, verspricht mir einen Ausweg aus dieser Lage. Meine Hände verkrampfen sich zu widerspenstigen Klauen, die meine verzweifelten Tränen Lügen strafen. Wenn er mich umbringen will, dann soll er dafür kämpfen, denn sobald ich eine Chance erhalte, werde ich ihm den geschliffenen Stahl aus den Fingern reißen, ihn in seinen Schädel rammen, bevor ich losrenne.
„Was wollen Sie?!“ Ich klinge weinerlicher, als ich zugeben möchte, also zwinge ich mich zur Ruhe, so gut ich das eben kann, ehe ich den nächsten Satz mit mehr Überzeugung ausspeie: „Nehmen Sie sich, was Sie wollen und lassen Sie mich los!“ Ich war schon immer geübt darin, meine Angst zu verbergen und bin heilfroh, ihm lediglich meine anschwellende Wut preiszugeben. Die Rage in meinen Worten ist nicht zu überhören.
„Ich habe, was ich will.“ Eine tiefe, gebieterische Stimme, ruhig, zufrieden. Eine Stimme, die ich noch nie zuvor gehört habe. Die Gewissheit, dass meine dunkle Vorahnung zutrifft, schlägt in meinen Gedanken ein, wirbelt Panik auf, die mich mit einem Energieschub durchzuckt. Er nimmt das Messer von meiner Kehle, umfasst meinen Hals mit der linken Hand – meine Rechte schnellt hervor, greift in die Klinge und drückt trotz dem schneidenden Schmerz zu. Als er mir den Stahl entreißt, lächelt er entzückt und schnürt mir mit dem Leder seiner Handschuhe die Luft ab. Wieder schaue ich auf das EXIT-Schild, spanne mich an. Es sind vielleicht acht, zehn Meter, die mich von meinem Fluchtweg trennen, das und der muskulöse Fremde. Er hat das blutverschmierte Messer weit aus meiner Reichweite geworfen, ich sehe es hinter den Petunien im schwachen Schein der Eingangsleuchte blitzen und solange er keine Verletzung hat, wird er mich, die humpelt, einholen. Draußen ist es kalt, weit und breit kein anderer Mensch, der mir helfen könnte. Vielleicht könnte ich mich unten beim See verstecken, ihn wenigstens aufs Glatteis führen?
Langsam, ganz vorsichtig, hebe ich den freien Arm, den anderen presst er fest an meine Seite. Wenn ich nur schnell genug bin, kann ich meinen Daumen in seine Augenhöhlen bohren, ihn mit Schmerzen und Blindheit bestrafen. Doch da sehe ich die pechschwarze Pistole. Ich muss mich konzentrieren, muss mich darauf vorbereiten, was auf mich zukommt. So gut es mir gelingt, wende ich mich um, mit der Absicht, ihn anzusehen – er trägt eine Skimaske, darunter funkeln honigbraune Iriden.
„Wenn du mir gehorchst, wirst du nicht sterben.“ Ich halte inne, widerstehe dem Drang zu nicken, aber auch dem, den Kopf starrsinnig zu schütteln. Stattdessen sehe ich ihn weiter röchelnd an und versuche aus seinem verhüllten Gesicht abzulesen, ob ich ihm glauben kann. Wenn es mir gelingt, eine Sekunde seiner Unachtsamkeit zu erkennen, kann ich mein Glück versuchen. Was für eine unpassende Ausdrucksweise, mit Glück hat das Ganze nichts zu tun.
Als die Kanonen der Ouvertüre erneut erklingen, spüre ich einen kurzen Ruck an meinem geliebten Pyjama. Der alte Baumwollstoff reißt sofort und das graue Nachthemd rutscht an mir herunter, fällt zu meinen Füßen auf den Boden. Ich kann es nicht sehen, nur fühlen, alles was ich erkennen kann, sind die Umrisse der Äste einer jungen Lerche gegen das grünliche Licht, das hartnäckig Rettung verspricht. Die Unterhose wird mir als nächstes abgerissen, ich winde mich weiter, der Ausweglosigkeit zum Trotz. Dann, zuletzt, zupft er mit einer erschreckend routinierten Bewegung meine BH-Träger von meiner Schulter, öffnet die Haken geschwind. Ich höre über die Musik hinweg sein Lachen, bevor ich komplett nackt dastehe, fest von seiner Lederhand umklammert. Ich muss mich konzentrieren, muss auf jede Abscheulichkeit gefasst sein und jede noch so kleine Fluchtchance vor ihm entdecken.
Ein harter Stoß, ich strauchle, falle hin, schlage mir meine Knie auf den kleinen Steinchen der Waschbetonplatten auf, lande mit den Händen in der Erde des Rosenstrauchs, den ich seit Tagen stutzen wollte.
„Nein!“, keuche ich, schnappe nach Luft, kann den Lauf seiner Pistole an meinem Hinterkopf fühlen, als er sich über mich beugt und den Reißverschluss seiner Hose aufmacht. Er lacht weiter, glaubt, ich wäre nicht in der Position, etwas zu verlangen, bin ausgeliefert. Die Überlegenheit macht ihn für eine Weile unachtsam, es gelingt mir, seine Pranke von meinem Hals zu zerren und ich beiße voller Hass und Abscheu in das widerlich schmeckende Leder. Ein Jaulen ist alles, was ich damit bezwecke und kaum keimt die Hoffnung auf, kommen schon seine Lippen dicht an mein Ohr, streifen es, als er flüstert: „Jetzt zier dich nicht so. Ist ja nicht so, als ob du noch Jungfrau wärst, du bist nur eine alte, reiche Schlampe.“ Ich kann seine Wut hören oder bilde es mir zumindest ein und selbst wenn ich meine Lage mit meinem Biss gerade eben verschlimmert habe, so triumphiere ich für einen flüchtigen Moment und würge heraus: „Arschloch!“ Getrieben von Rage bäume ich mich auf …
„Noch ein Wort, eine Bewegung und es ist aus.“ Er klingt wieder vollkommen gelassen – das kann nicht sein erstes Mal sein. Ich muss an all die anderen denken, denen er womöglich dasselbe angetan hat und wünsche mir, sie hätten ihn aufgehalten, ihn angezeigt. Konnten sie das danach nicht mehr? Hat er sie diese unerträgliche Situation erleiden lassen, nur um sie dann doch zu töten, sein Versprechen zu brechen? Ich schweige, reiße die Augen auf, um jedes Detail in mich aufzusaugen, es mir zu merken, kratze mit meinen Fingernägeln über den Streifen nackter Haut über seinem Handschuh. DNA-Beweise, ich muss Beweise sammeln! – wenn ich schon dem Unvermeidlichen nicht entkommen kann, will ich ihn im Gefängnis besuchen, ihn mit meiner Freiheit quälen – oder zumindest sicherstellen, dass meine Leiche direkt zu ihm führt! Sein Gewicht presst mich tiefer nach unten, Dornen stechen meine Wangen, meine Haare verheddern sich in den Büschen, die kleinen Steinchen graben sich in meine Knie. Ich ignoriere die Schmerzen, weine nicht, bettle nicht – die Kontrolle, die er über mich hat, ist vorübergehend, ich bleibe Herr meines Handelns, meiner Ehre als Mensch.
Er dringt gewaltsam in mich ein. Zu spät, denke ich und verscheuche den Gedanken so schnell er aufgetaucht ist. Ich darf nicht aufgeben, niemals! Mit jedem Stoß peinigen mich meine Knie mehr, ich versuche sie auszublenden, mich darauf zu konzentrieren was hilfreich sein könnte. Sein Keuchen, sein Geruch, die Nähte an seinen Handschuhen, egal was, nur nicht das, was gerade mit mir geschieht. Er hockt auf meinen Unterschenkeln, dennoch versuche ich sie wegzuzerren, ihn zu treten, doch er stößt mich nach unten, drückt mein Gesicht in die Erde, erstickt mich beinahe. Ich kann hören, dass die Ouvertüre zu Ende ist und von neuem beginnt, als er kommt – fünfzehn Minuten, vierunddreißig Sekunden, seit ich auf „Play“ gedrückt habe, bevor ich in den Wintergarten getreten bin.
Der Fremde hat sich schnell erhoben, ist meinem entkräfteten Schlag behände ausgewichen und hat ohne etwas zu sagen seine Hose zugemacht. Jetzt wirft er mir das Handset meines schnurlosen Telefons hin, als wäre ich eine dreckige Hündin und wiegt er mein hasserfülltes Knurren mit einem spöttischen Lächeln ab. Mein Körper ist vollkommen ausgelaugt, versagt mir den Dienst, jede Empfindung außer abgrundtiefer Abscheu ist aus mir gewichen. Ich verstehe kaum, was er sagt, außer, dass ich mich glücklich schätzen könne, jemanden wie ihn abgekriegt zu haben. Das Messer klappert, als er es über den Boden in meine Richtung kickt und ich will sogleich danach tasten. „Du hast die Wahl.“ Nein. Ich brauche keine Waffe mehr, das Grauen ist geschehen und ich darf ihn nicht provozieren den Abzug zu drücken, will weiterleben. Schwere Schritte, das Knirschen von Glasscherben und ein kurzer, kalter Luftzug, als er die Außentür aufstößt.
Woher die Kraft kommt, ist mir ein Rätsel, als ich hastig mit meinen blutigen Händen nach dem Telefon greife. Darauf bedacht, seine Spuren nicht abzuwischen, gebe ich die drei Ziffern ein, die ich als Kind als allererste Telefonnummer gelernt hatte. Ohne zu zögern betätigte ich das grüne Hörer-Symbol. Er hat mir die Wahl gelassen, der Sache ein Ende zu setzen, nicht zuzulassen, dass er das nochmals jemandem antun kann. Die Rage schwindet langsam, weicht der kalten Entschlossenheit das Unaussprechliche auszusprechen, mich den Rest meines Lebens an seiner kläglichen Gefangenschaft ergötzen. Er hat mir meinen sicheren Ort, meine Zuflucht genommen und ich will ihn leiden sehen, ihn vernichten. Während ich mich aufrapple, auf wackeligen Beinen vorwärtstaumle, wird das Freizeichen von einer angenehmen, professionellen Stimme abgelöst: „Notrufzentrale, was ist Ihr Notfall?“ Meine Antwort klingt heiser, monoton und mir ist, als würde ich nicht selbst sprechen. „Ich brauche einen Krankenwagen und die Polizei. Sagen Sie ihnen, dass …“ Ich atme tief durch, trinke die blütenschwere Luft des Wintergartens, so als könnte sie mir die Bürde nehmen, mich der unbekannten Frau am Telefon anzuvertrauen. „Sagen Sie ihnen, dass ich von einem Fremden angegriffen, überwältigt und vergewaltigt wurde.“ Ich rezitiere meine Adresse beinahe mechanisch, bemerke, dass ich der Ohnmacht nahe bin, derweil tropft das Blut von meinen Fingerspitzen auf den glatt polierten, weißen Marmor der Treppe unter dem EXIT-Schild. „Kommt einfach“, krächze ich, lege auf und breche zusammen, nackt, mit aufgerissenen Knien, verdreckt, beschmutzt und der klaffenden Wunde an der Hand. Ich werde das Bewusstsein verlieren, schießt es mir durch den Kopf, aber ich weiß, es ist niemals zu spät.