Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Der junge Schaffner hatte ein breites, überglückliches Lächeln auf dem Gesicht, aus dem man gut erkennen konnte, dass er seine wahre Freude an der Sache hatte, während er die authentisch gestalteten Fahrkarten kontrollierte und lochte. Der Nostalgiezug rollte langsam die Strecke entlang und der Rauch aus dem Schornstein der auf Hochglanz polierten Lokomotive zog vor den Fenstern vorbei und war auch im Innern des hölzernen Wagens zu riechen. Ich habe Fahrten mit historischen Extrazügen schon seit meiner Kindheit gemocht, genoss das Flair der alten Waggons und hätte den Wecker auf jede noch so absurde Tages- oder Nachtzeit gestellt, um keine Gelegenheit für so eine Fahrt zu versäumen. Eisenbahnenthusiasten sind schon ein komischer Menschenschlag, sinnierte ich, während ich einen Blick auf die langsam vorbeiziehende Landschaft warf. Wer sonst bezahlte den mehrfachen Ticketpreis, nur um langsamer und auf einer Holzbank sitzend mit einer vorsintflutlichen Maschine ans Ziel befördert zu werden?
Eigentlich war dies bei weitem nicht meine erste Fahrt in einem Extrazug und damit auch nicht meine erste Gelegenheit, die Passagiere zu beobachten. Ich war jedoch nie wegen ihnen in den Zug gestiegen und hatte meine Mitreisenden oft wie ein gewohntes Hintergrundgeräusch ausgeblendet. Doch aus irgendeinem Grund, den ich nicht so recht zu fassen bekam, dachte ich heute über sie nach und sah mich neugierig im Wagen um.
Im Abteil auf der anderen Seite des Mittelganges saß eine vierköpfige Familie, deren Ausflug nur scheinbar gemütlich war. Die Eltern waren in der Mitte ihrer Dreißiger, der Junge um die zehn Jahre und das Mädchen schätzte ich auf acht. Doch ihre typisch bürgerlich wirkende Idylle wurde von einer Zankerei getrübt, sie konnten sich nicht darüber einigen, was sie zu Abend essen wollten. Jedenfalls diskutierte der Junge mit der Mutter, während das Mädchen mit einem Tannzapfen spielte, den es vielleicht unter einem der großen Bäume am Bahnhof aufgelesen hatte. Meine Beobachtungen wurden jäh unterbrochen und ich fuhr erschrocken herum, als ich neben mir eine fremde Stimme hörte: „Hallo, ist da noch einer frei?“
Die Frau, die neben mir im Gang stand, war wohl um die Dreißig und reiste vermutlich allein, zumindest war kein Begleiter in Sicht. Sie war unauffällig gekleidet und wirkte auch sonst wie eine Person, die rasch in der Maße unterging. „Natürlich“, entgegnete ich, noch immer etwas verwirrt und deutete auf die gegenüberliegende Bank. „Bitte.“
Während sie sich setzte, realisierte ich, dass wir schon lange an keinem Bahnhof mehr gehalten hatten und fragte: „Na, unterwegs aufgesprungen?“
Sie starrte mich kurz wortlos an und ich begann mich dafür zu schämen, dass ich wohl nicht halb so witzig gewesen sein mochte, wie ich gedacht hatte. Schließlich, nach einem Augenblick, der sich etwas zu lange anfühlte, begann sie zu grinsen und antwortete: „Nein, ich war nur auf der Toilette und jemand hat meinen Platz besetzt.“
„Ah, klar“, murmelte ich gelassen, doch mir war immer noch etwas unwohl. Ich war nie besonders entspannt unter Fremden, wenn sie mir direkt gegenübersaßen und ich das Gefühl hatte, dass ich gezwungen war eine Konversation anzustoßen. Es war dieses unbehagliche Schweigen, wegen dem man glaubte, etwas sagen zu müssen, doch niemandem fiel etwas ein. Insgeheim ärgerte es mich unheimlich, dass sich die Fremde ausgerechnet den Platz schräg gegenüber mir hatte aussuchen müssen, doch dagegen konnte ich nichts mehr tun. Jetzt musste ich damit leben, mit etwas Pech für die nächste Stunde. Nervös spielte ich mit dem Zippo-Feuerzeug in meiner Hosentasche und versuchte mich damit von der unangenehmen Situation abzulenken.
Das Toilettenpapier ist rosa und geblümt“, unterbrach sie die Stille und ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass ich sie mit offenem Mund angestarrt haben musste. Alles, was ich zustande brachte, war ein linkisches und sehr unsicheres: „Wie bitte?“
„Na ja“, begann sie, „wenn dieser Zug aus dem Jahr 1905 stammt, wieso ist dann das Toilettenpapier rosa? Das passt einfach nicht.“
„Eigentlich stammt nur die Lok aus dem Jahr, die Wagen sind etwas neuer“, plapperte ich los, bevor ich mich auf ihre eigentliche Aussage besann und laut überlegte: „Wie sah wohl das Klopapier vor hundert Jahren aus?“
Sie zuckte mit den Schultern und legte ihre Stirn in Falten. „Keine Ahnung, aber nicht rosa.“ Sie senkte ihre Stimme verschwörerisch. „Vielleicht musste man es damals noch mit einer Schere abschneiden?“
Ich konnte nicht anders, ich begann laut loszuprusten und begriff nur einen Moment später, dass die Familie ihre Diskussion unterbrochen hatte, um mich erstaunt anzustarren. „Sorry“, murmelte ich hastig und so leise, dass sie mich garantiert nicht gehört hatten, wahrscheinlich mit hochrotem Kopf. Die Fremde mir gegenüber gluckste und fragte dann: „Wieso sind denn die Wagen neuer als die Lok?“
„Es gibt nicht mehr so viele alte Wagen“, erklärte ich, bevor ich hinzufügte: „Diese sind glaube ich aus den Dreißigerjahren.“
„Also funktioniert die Zeitmaschine nicht so ganz“, meinte sie sie.
„Welche Zeitmaschine?“ Ich kam mir komisch vor, dass ich ständig nachhaken musste, doch ich hatte den Eindruck, dass ich einiges mehr über ihre Denkprozesse wissen müsste, um ihr folgen zu können. Sie schien sich nicht daran zu stören, denn sie sprach weiter, wie wenn es die größte Selbstverständlichkeit der Welt wäre. „Das ist ganz einfach: Wir sitzen in einem alten Zug, also müssen wir durch die Zeit gereist sein, aber wenn nicht alle Fahrzeuge aus derselben Epoche stammen ist die Illusion nicht so gut.“
„Oder wenn das Toilettenpapier rosa ist“, ergänzte ich, was sie zum Grinsen brachte. Ich konnte mir den nächsten Satz nicht verkneifen, also sprach ich ihn aus: „Deine Theorien sind echt komisch.“
Sie sah mich kurz mit großen Augen an, ging jedoch nicht weiter auf meine Aussage ein. „Und, wieso bist du in diesem Zug?“
„Ich mag alte Züge.“ In einem Anflug von Ehrlichkeit fuhr ich fort: „Ich mache pro Monat mindestens eine solche Fahrt. Und du?“
„Keine Ahnung“, überlegte sie. „Ich war am Bahnhof, habe den Zug gesehen und mich spontan entschieden, einzusteigen. Ich wollte sehen, wie es ist mit einer Dampflok zu reisen.“
„Ich habe mir vorhin gerade die Frage gestellt, was für Menschen in einem Extrazug mitfahren“, erzählte ich. „Aber so spontan sind wohl die wenigsten davon.“
„Keine Ahnung“, flüsterte sie, wohl damit sie die Familie nicht hören konnte, doch sie schien vom Gedanken begeistert zu sein. „Aber ich bin ziemlich gut darin Leute zu lesen, wir können ja die in unserem Wagen beobachten und rätseln, wieso sie auf dieser Fahrt dabei sind. Dazu kann man sich lustige Geschichten ausdenken.“
„… und darum würde ich das ältere Ehepaar im Abteil hinter uns Bonnie und Clyde nennen“, beendete sie leise genug, sodass uns niemand hören konnte, ihre Ausführungen. Ich hatte kaum bemerkt, wie die Zeit vergangen war und war erstaunt, da ich das Ruckeln fühlen konnte, als unser Zug die erste Weiche des Bahnhofs überfuhr, an dem die Fahrt enden würde. Die Familie, die meine neue Reisegefährtin als ‚die Simpsons‘ bezeichnete, machte sich daran, ihre Sachen zusammenzusuchen. Die Kinder plapperten wild durcheinander und waren ganz aufgebracht, dass endlich etwas passierte, während die Eltern müde wirkten und vermutlich froh waren, dass sie endlich nach Hause gehen konnten. Ich konnte nicht anders, als mir die vier mit geben Cartoon-Gesichtern vorzustellen, die Idee war einfach zu verlockend. „Und, was denkst du?“, wollte sie wissen und ich wandte mich ihr zu.
„Du hast einige gute Theorien zu den Leuten hier im Zug auf Lager“, antwortete ich, noch immer amüsiert, denn sie hatte es tatsächlich geschafft, für jeden der Passagiere einen Namen aus der Film- und Fernsehgeschichte zu finden. Starsky und Hutch, zwei Eisenbahnfans, die ihre Namen wegen ihrer Frisuren gekriegt hatten und die diagonal vor uns gesessen waren, verabschiedeten sich laut voneinander, während Bonnie und Clyde darüber diskutierten, ob die Stufe zur Plattform hoch sein würde. Spock, der Schaffner, der seine gute Laune nicht zu verbergen versuchte, trat von der Plattform in den Wagen und rief: „Endstation!“
Bevor ich mir Gedanken über Tom und Jerry machen konnte, widmete ich mich wieder meiner neuen Reisegefährtin. „Hey, mit dir ist das Bahnfahren ziemlich unterhaltsam“, sagte ich und erkundigte mich dann, bevor ich es mir anders überlegen konnte: „Übernächsten Sonntag fährt der ‚Trans-Europ-Express‘ über die Gotthardstrecke, hättest du Lust, mitzukommen? In den Zug passen viel mehr Leute, wenn du es schaffst, für die alle einen passenden oder einen ironischen Namen aus dem Fernsehen zu finden …“
„Ist das eine Herausforderung?“, unterbrach sie mich und ich zögerte kurz, bevor ich nickte. Und wieder kam mir der Gedanken, dass es wirklich komische Leute sein müssen, die in ihrer Freizeit zum Spaß mit einem Nostalgiezug reisen.