Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
19:30 Uhr
Die Gärtnerei liegt verlassen am Ende der staubigen Straße, nur das entfernte Zirpen der schläfrigen Grillen trägt das feuchtwarme Gefühl des jungen Sommerabends durch die schräggestellten Fenster. Seine Fahrkarte aus Löschpapier löst sich auf und die Reise beginnt.
20:11 Uhr
Zaghaft blättert er in einem Bildband über toxische Pflanzen und bildet sich ein, sich zu langweilen, den schweren, berauschenden Blütenduft, der durch seine Blutbahnen rauscht, nicht zu bemerken. Er weiß es nicht, aber die ersten Schatten lösen sich von ihrem angestammten Platz, kriechen langsam voran und winden sich, gefangen im klebrigen Pollennebel, bis sie, scheinbar plötzlich, ausbrechen. Vor seiner Netzhaut flackern winzige Lichtpunkte, deren fades Grauweiß nach und nach einem breiten Farbspektrum weicht. Ein Schauer seltsamen, unbekannten Couleurs prasselt pulsierend nieder und rinnt am Glaskörper herunter, umschmeichelt ihn, während die stumme Melodie des Heumondes in seinen Gedanken brummt. Noch kann er den Rausch erfassen, doch scheint er ihm durch die Finger zu rinnen, wann immer er versucht ihn zu begreifen. In seiner letzten fähigen Minute dreht er den abgegriffenen Knopf am Röhrenradio und taucht bald darauf in dessen tosende Klänge ab.
21:00 Uhr
Der Urwald lebt, atmet im Gleichschritt mit seinen Bewegungen und reckt sich ihm entgegen. Er glaubt still und federleicht vor einer Mimose zu verharren, sie kontaktlos zu umschließen, sein Körper zittert indessen vor Erregung. Grelle Stromfäden feuern durch seine neuronalen Bahnen, scheinbar ziellos und kreieren eine unbekannte Welt, deren Neuartigkeit jeden bewussten Verstand überwältigen, zu Boden reißen würde. Währendem er vor ihr kniet, schlängelt sich das zierliche Grün in einem unmöglichen Kreislauf aus sich wiederholenden Wellen, ohne jemals rückwärts zu laufen und als seine Fingerspitzen das Gewächs berühren, schreckt es zusammen, bereitet seine Schwingen zum Abflug vor. Die vierte Dimension verschwindet, weicht einer nie enden wollenden Form des Seins und er lauscht konzentriert, wie seine Zellen mit der Ewigkeit verwachsen.
21:47 Uhr
Scheiben aus blankem, reflektierendem Metall schweben durch den verzerrten Kosmos, ziehen dunstige Farbschleier hinter sich her und seine Nackenhaare stehen wohlig auf, als er durch den Universumswald schlendert. Er hat schon lange vergessen, wo er beginnt und endet, trotzdem ist er nicht verloren. Er ist das Zentrum und die Nichtigkeit zugleich. Seine Reise hat ihn an einen unwirklichen und dennoch unwahrscheinlich real erscheinenden Ort des Verständnisses getrieben und ihm scheint es so, als würde er die unsichtbaren Fäden der Sinnhaftigkeit erkennen. Bloß, seine Gedanken rasen schneller, als er sie wahrnehmen könnte und so verfliegt die Chance auf Erkenntnis mit ihnen im Nichts des leeren Raums; zurück bleibt das tiefe, unerschütterliche Gefühl von Verbundenheit und Vollständigkeit, welches nur auf seinem gelösten Gesicht erkennbar wird.
22:26 Uhr
Die stetigen, gleichförmigen Bewegungen des Dickichts werden bedrohlicher, lassen ihn seine Ruhe verlieren und hetzen ihn. Irgendwo vergraben in seinem chaotischen Geist bemerkt er seine Nervosität und noch ehe sich die Realisation um seine Angst verwischen könnte, schlägt sie auf seinen Atemrhythmus über, vereinnahmt ihn bis zur Hechelei. Getrieben von Unbeschreiblichem trabt er auf und ab, immer darum bemüht das brandende Meer der Blumen nicht aufzuwirbeln, nicht in ihm zu ertrinken. Gedämpftes Licht flutet die weit geöffneten Löcher, die seine Pupillen sind und er hat das panische Gefühl zu erblinden, als er vom surrenden Schein der blauen Leuchtiode angezogen wird, welche unschuldig auf seiner Festplatte unter der Registrierkasse blinkt. Sich kleinmachend rollt er sich unter dem Verpackungstisch zusammen und wartet darauf, dass das Leben um ihn herum einschläft.
23:04 Uhr
Der steinerne Boden wankt und kringelt sich sanft, wiegt ihn vor und zurück und erinnert ihn an den längst vergangenen Schoß seiner Mutter und eine einsame Fliege läuft über sein Handgelenk, als er seine Stimme wiederfindet. Das tiefe, stöhnende Raunen entfesselt seine Kehle und befreit ihn von der zugebundenen Last der Furcht und erneut findet er sich im Einklang wieder, verstrickt im zarten Netz des Universums. Das schillernde Insekt breitet seine filigranen Flügel aus und als der Lauf der Dinge für jahrelange Sekunden einfriert, taucht er ab und gleitet über die transparente, von feinsten Venen durchzogene Landschaft der Flugtücher, bis hin zu den facettenreichen Hügeln, in welchen sich sein Innerstes zu spiegeln scheint.
23:38 Uhr
Scheppernd zerbirst ein Weinglas und die harzige Flüssigkeit an seinem Fuß reißt den hölzernen Untersetzer mit sich in die Tiefe. Amüsiert und erfreut über den faszinierenden Anblick der perfekt zersplitterten Bruchstücke, dreht er sich auf dem Absatz um und hockt sich neben das temporäre Kunstwerk, doch bevor er sich diese göttliche Kostbarkeit hätte einverleiben können, wird er behutsam weggeführt. Die Magnolien duften wunderbar, ekstatisch und verschlingen ihn beinahe ganz, lösen ihn in ihrer Mitte auf und verleihen ihm eine Glückseligkeit, deren Ende er nicht einmal zu erahnen vermag. Neben ihnen hängen die geheimnisvollen Lampions einer Kapstachelbeere und reizen ihn mit dem Versprechen auf eine scharlachrote Phantasie. Er widersteht der Versuchung, die Beere mitsamt ihres trockenen Körbchens zu verspeisen und schält die triangulären, samtigen Blätter behutsam. Sie schmecken köstlich nach Regentau und ungebändigter Lebenslust.
1:23 Uhr
Es ist ihm eine schiere Unmöglichkeit seine langsam abebbende Gedankenflut in Worte zu wandeln, sie zu teilen und zu verschenken, also legt er den Stift still lächelnd auf die Seite und schlendert ein letztes Mal durch das kleiner werdende Unterholz des Regenwaldes. Die saftigen Blätter einer Azalee, die beinahe hart über seine Haut kratzen, wecken in ihm die Ahnung von körperlicher Abgrenzung und die Sehnsucht nach dem lauen Wind der Sommermonate. Der Drang zu laufen steigt und das betörende Glühen der Welt hinter der gläsernen Tür lockt ihn. Ganz so als würde ein unsichtbarer Gefährte ihn vor der Herrlichkeit der Freiheit schützen wollen, erstarrt er, hebt das Kinn an, schließt die Augen und füllt seine Lungen mit der geballten Weisheit des Blütenduftes. Das Klingeln des Telefons verwandelt sich in ihm in eine liebliche Symphonie.
2:09 Uhr
„Ich weiß nicht, wie lange es noch dauert“, flüstert sie in den Hörer, währendem sie ihn weiter aufmerksam beobachtet, wie er, einen Waschlappen streichelnd, mit einem Gänseblümchen spricht. „Ich vermute, dass er in ein oder zwei Stunden einschläft, aber so genau kann ich dir das nicht sagen.“ Als sie den Anruf beendet hat, wagt sie sich, ihn für eine halbe Minute alleine zu lassen, um nach ihrem Hund zu sehen, der geduldig im Hinterzimmer döst. Sie gibt ihm etwas Hundefutter und beteuert ihre Absicht, so bald wie möglich mit ihm spazieren zu gehen, als er hineinplatzt und überschwänglich hinausposaunt: „Ich will Fahrradfahren gehen!“