Familiengeschäft

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Los Angeles war eine heisse Stadt, nicht nur im übertragenen Sinn, sondern vor allem wortwörtlich. Die Sonne brannte unerbittlich und hatte seit Anfang der Hitzewelle schon einige Tote gefordert. Ich war froh, dass die kurzzeitig zu einer Aula umfunktionierte Turnhalle klimatisiert war und etwas Abkühlung bot. Das Schülerkonzert, dessen Aufführung ich mir (mehr oder weniger unfreiwillig) mitanhören durfte, war zwar nicht umwerfend, aber wenigstens nicht grauenhaft. Während ich da sass, einen grossen Schluck aus meiner Kaffeetasse nahm und fühlen konnte, wie mein Schweiss trocknete, blieb mir etwas Zeit nachzudenken. Sehr oft war mein Job viel langweiliger, als gewisse Actionfilme und Fernsehserien suggerierten.

Eigentlich hatte meine Anwesenheit nicht direkt mit der Aufführung zu tun, die mich schon fast an eine moderne Darstellung des Gefühlszustands der Schüler erinnerte, sondern mit dem Mann, der zu meiner Linken vor mir am Gang der Klappstuhlreihen, in der Nähe des Ausgangs sass: Joss Marsden, dessen elfjähriger Sohn als Teil der ausserirdischen Performance auf der Bühne stand und Gitarre spielte. Ja genau, der Joss Marsden, ehemaliger Mafiaboss aus New York, der die letzten Monate viel zu oft in den Schlagzeilen gewesen war, um je wieder in seinem Gewerbe tätig sein zu können. Doch das würde er auch nicht mehr müssen, denn er hatte der Polizei alle geliefert von denen er wusste, und bei einer Organisation in dieser Grössenordnung war das eine ganze Menge Namen, die es ihm jetzt ermöglichten, in Los Angeles unter einem falschen Namen von vorne anzufangen. Jetzt wartete er auf die Prozesse, bei denen er aussagen musste um die New Yorker Familien, eine nach der anderen, wie Dominosteine zu Fall zu bringen. Ich wusste, dass viel Staub aufgewirbelt werden würde und die Prozesse durchaus das Potential dazu hatten, die Geschichte der Stadt zu verändern. Jeder Mafioso aus dem „Big Apple“ würde nach Marsden Ausschau halten und eine Sichtung des Kronzeugen, rasch über den Äther verbreitet, würde ausreichen um eine ganz Horde von Profikillern in unsere Richtung zu locken. Deswegen fiel mir und den fünfzehn anderen U.S. Marshalls in meinem Team die Aufgabe zu, diesen Zeugen zu beschützen. Ich seufzte und stellte die leergetrunkene Kaffeetasse auf den Tisch, der hinter meiner Sitzreihe am Ende des Raumes stand – bisher war das nur ein weiterer langweiliger Nachmittag in der gefühlt heissesten Stadt, die ich kannte.

Ich fuhr zusammen, als ich das unverkennbare und penetrante Geräusch eines Jagdhorns hören konnte. Ich konnte rückblickend nicht mehr sagen, seit wann ich das Schülerkonzert nicht mehr verfolgt hatte, doch das ungewohnte Instrument, das es wohl nur auf die Bühne geschafft hatte, weil es zu der Story passte, hatte meine Aufmerksamkeit geweckt. Ich wusste nur, dass es um irgendeine Geschichte ging, die im Mittelalter spielte und im Moment schien der König mit seinem Gefolge auf der Jagd zu sein. Originell waren diese Schüler, das musste ich ihnen lassen, ausserdem hatten sie die Turnhalle dafür, dass es ein so heisser Nachmittag war, sehr gut gefüllt. Ich konnte fühlen wie das Mobiltelefon in meiner Hosentasche vibrierte und kramte es umständlich aus der neuen und noch viel zu steifen Jeans. Tatsächlich hatte ich eine Kurzmitteilung von meinen Vorgesetzten bekommen: Hohes Kopfgeld auf M. ausgesetzt, aktuelle Position sollte weiterhin sicher sein.
Sollte. Sollte. Na wunderbar, jetzt konnte ich nur noch hoffen, dass die Analysten mit ihrer Einschätzung richtig lagen, sonst würde hier bald die Hölle losbrechen. Ich beugte mich nach vorn und tippte meinem Schutzbefohlenen auf die Schulter. Er drehte den Kopf und ich murmelte: „Ich muss kurz auf die Toilette, Hagan wird so lange meinen Platz einnehmen.“
Marsden nickte und wandte sich wieder um, ihn interessierte nicht besonders, was ich und meine Kollegen taten, so lange wir ihn an Leben hielten. Das Schülerkonzert neigte sich langsam seinem Ende zu, würde aber sicher noch eine Viertelstunde dauern. Während ich mich erhob und leise in Richtung der Herrentoilette davonschlenderte, wartete der junge Marshall bereits, meinen Platz hinter Marsden einzunehmen.

Was dann geschah, habe ich zwar selbst nur bruchstückhaft über meinen Ohrhörer miterlebt, dennoch kann ich es dank der vielen Protokolle und Verhöre sowie vieler Bar-Gespräche mit Hagan und dem Team lückenlos nacherzählen.

Hagan, ein unerfahrener aber ambitionierter Marshall, sass in der Turnhalle und liess seinen Blick von den Eingängen zu Marsden und zurück wandern. Sicher war er mit seinem jugendlichen Enthusiasmus aufmerksamer als alle von uns, weshalb ihm auch gar nichts entging. Der Informant schien sich zu langweilen, denn er war auf seinem Sitz eingenickt und bewegte sich kaum mehr. Hagan fragte sich, wie Marsden während eines Schülerkonzerts seines Sohnes schlafen konnte und hielt den Mann für eine ziemliche Zumutung, liess seine persönliche Meinung sein Pflichtbewusstsein jedoch nicht trüben. Als die Schüler damit begannen, die letzten ohrenbetäubenden Fanfaren zu spielen und zu allem Übel auch noch das Jagdhorn wieder einsetzte, fragte sich Hagan, wieso der Mafioso noch immer nicht aufwachte und versuchte ihn wachzurütteln. Marsden rutschte vom Stuhl und plumpste auf den Boden, neben einer für den Turnunterricht angebrachten Linien. Hastig schob Hagan den Stuhl zur Seite und krabbelte nach vorne, kniete sich neben dem Informanten hin und prüfte seinen Puls. Er konnte nichts fühlen – Marsden war tot. Während in der Turnhalle das Chaos ausbrach und die Marshalls wild durcheinanderhasteten und die Ausgänge abriegelten, fragte sich Hagan, was schiefgelaufen sein mochte.

Ich konnte nur einzelne Rufe hören, sonst war es in der Toilette still. Es dauerte nicht lange, bis ich aus dem Ohrstöpsel die Bestätigung vom Tod des Mafioso hörte. Zufrieden spülte ich die kleine Nadel hinunter, mit der ich ihm das Gift injiziert hatte, trat zum Lavabo und wusch mir gründlich die Hände. Natürlich würden sie auch mich überprüfen, doch als treuer Marshall, der schon mehr als fünfzehn Jahre seinem Land gedient hatte, wäre ich schnell aus dem Schneider. Keine Beweise deuteten auf mich hin und Marsdens Tod würde wohl auf immer ein ungeklärter Fall bleiben und das auch nur, wenn der Coroner nicht einen natürlichen Tod feststellen würde. Einzig mein geheimes Bankkonto auf den Cayman Islands hätte als Beweis dazu dienen können, dass ich gerade etwas getan hatte, für das ich den Rest meines Lebens hinter Gitter käme. Doch eines hatte ich im Laufe der Jahre gelernt: Am Ende hat jeder seinen Preis.

Autorin: Sarah
Setting: Turnhalle während eines Schülerkonzerts
Clues: Darstellung, Jagdhorn, Äther, Kaffeetasse, Los Angeles
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