Fataler Pragmatismus

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Der Morgen war noch nicht angebrochen, da brachen zwei Männer durchs Gehölz. Vor ihnen erstreckte sich ein schmaler Pfad, der sie über die Baumgrenze hinaus in eine steinige Landschaft führen würde.
„Ich komme mir wie beim Alpaufzug vor“, keuchte er und stolperte über eine Wurzel. Der Aufstieg war für beide eine ungewohnte Angelegenheit, der ältere Henry hatte allerdings weit mehr zu kämpfen. „Scheiße.“
„Naja, du hast nicht unrecht“, pflichtete ihm Felix bei. „Es ist die Plackerei wert, das siehst du, wenn wir erstmal oben sind.“
„Daran zweifle ich nicht.“ Henry klemmte seine Daumen unter die Rucksackträger, hustete und schnaufte tief durch, ehe er hinzufügte: „Woran ich zweifle, ist meine Kondition.“ Er hatte kurz vor dem Vorfall seinen Dreiundsechzigsten gefeiert, sich bereits auf die Pension und sein Häuschen am See gefreut.
„Vergeude deinen Atem nicht fürs Quatschen.“ Auf der gegenüberliegenden Talseite blitzten die ersten Sonnenstrahlen über die Berge, als sie aus dem Wald kamen. „Ich kann dich unmöglich tragen, wenn du schlappmachst.“ Es war eine Schicksalsgemeinschaft, die sie verband, ein Glückstreffer noch dazu. Natürlich sprach das keiner an, in der aktuellen Lage der Welt verzichtete man besser auf zu viel Emotionalität.
„Pflück mir doch ein paar Gräschen“, spottete der andere auf Felix’ Rucksack deutend, an dem diverse halb verdorrte, halb gefrorene Büschel hingen.
„Ich weiß, wer heute Abend keinen Tee mit Holunderblüte, sondern lauwarmes Wasser säuft.“
„Jaja, ist in Ord… Halt!“ Henry blieb abrupt stehen. „Da vorne.“ Ohne ein Wort auszutauschen, rannten sie einige Schritte rückwärts, gingen hinter einer kleinen Gruppe von Tannen, die abseits vom Wald in die Höhe wuchsen, in Deckung. Ein Beobachter hätte ihre Reaktion leicht als routiniert missverstehen können, in Wahrheit wollte sich selbst Monate nach dem Ereignis keine Gewöhnung einstellen. Felix wunderte sich oft, ob es überhaupt jemals dazu käme. Sie harrten aus. Eine Minute. Zwei Minuten. Drei … Bis Henry es wagte, sich vorzubeugen. Vorsichtig suchte er das Gelände ab, bedeutete Felix mit erhobener Handfläche, sich zurückzuhalten. Weitere Minuten vergingen, in denen er die Gestalt betrachtete, welche in knapp dreißig Metern Entfernung zwischen einer Steinformation lag. Henry fixierte den Brustkorb des Unbekannten, hielt angespannt Ausschau, ob sich etwas bewegte.
„Tot. Vermutlich“, informierte er seinen Gefährten zuversichtlich, orderte jedoch: „Warte. Ich seh’s mir an.“ Damit huschte der Grauhaarige zwischen den Nadelbäumen hervor, schaute in alle Richtungen und marschierte auf den Fremden zu. Felix gab indes sein Bestes, den Überblick zu behalten, in solchen Situationen war man lieber misstrauisch, statt naiv davon auszugehen, ein regloser Körper sei harmlos. Felix kam sich je länger desto mehr vor wie eine winzige Maus, stets auf der Flucht vor einem übermächtigen Feind, dem man bestenfalls entkommen, allerdings niemals besiegen konnte.
Henry verlangsamte sein Tempo, ehe er bei seinem Ziel anlangte, dann duckte er sich, lief gebückt und konzentriert um den am Boden Liegenden herum. Ein Mann, schätzungsweise Ende Zwanzig und wahrscheinlich erst seit einigen Stunden tot. Zwar waren seine Züge eingesunken, die Haut wirkte ledrig und seine Augen trübe, ansonsten waren keine Verwesungszeichen erkennbar. Neben ihm fand Henry einen Rucksack und eine dunkelblaue Wolldecke, nichts Verdächtigtes. Nachdem er den Toten ausgiebig inspiziert hatte, rang er sich dazu durch, Entwarnung zu geben: „In Ordnung.“
Felix trabte heran und schirmte sein Gesicht gegen die aufgehende Sonne ab. „Mensch?“
„Ja.“
„Hm“, machte der Jüngere. Zum vierundneunzigsten Mal sah er einen Verstorbenen, die Leichenberge der ersten Tage nach dem Angriff nicht mitgezählt. „Gefallener?“
„Nein. Zivilist.“
„Was wollte der hier oben, mitten im Nirgendwo?“
„Das fragst du? Dasselbe wie wir, denke ich“, meinte Henry und gähnte ausgiebig, die Wanderung hatte ihm sichtlich zugesetzt. „So viel zu deiner Theorie, die Hütte sei geheim.“
„Hm.“ Die Idee, die Alp könnte plötzlich von Flüchtenden überrannt werden, beunruhigte ihn. Selbstverständlich war Felix bewusst gewesen, dass auch andere Schutz in den Bergen suchten, aber damit konfrontiert zu werden, veränderte alles, schließlich hatten sie wochenlang keine Seele getroffen. „Hm“, brummte er erneut, während Henry um den Leichnam herumschlenderte und bei dessen Füßen in die Hocke ging.
„Größe Fünfundvierzig“, jubelte der Ältere geradezu. „Meine!“
„Schon gut, sei leise. Glaubst du, es kommen mehr?“, teilte er seine Überlegung mit Henry, der die Sorge schulterzuckend abwinkte.
„Vielleicht. Ist nicht zu ändern.“ Fatalistischer Pragmatismus war seine Stärke, eine, die Felix zu schätzen gelernt hatte und die er sich selbst aneignen wollte.
„Du hast recht. Wenn’s sein muss, verjagen wir sie halt“, lenkte er wenig überzeugt ein, grinste dann und begab sich zum Rucksack. „Finger weg von seiner Jacke, die gehört mir.“
„Passt mir eh nicht über den Plauzen“, nuschelte Henry und löste die Schnürsenkel des linken Schuhs, der rechte lag schon auf dem eisverkrusteten Gras. „Eine Wasserfalsche“, meldete der andere erfreut, woraufhin er spottete: „Wir sind nicht in der Sahara, Jungchen, was willst du Wassergewicht schleppen, wenn es überall Quellen … Moment.“ Die beiden Männer hielten die Luft an, horchten angestrengt, bereiteten sich darauf vor, Sack und Pack liegenzulassen und loszurennen, da meckerte eine Ziege und trottete friedlich über die Anhöhe. Erleichtert stöhnte Henry „Scheißvieh!“ und sein Leidenskumpel lachte laut auf. „Nochmal: Lass die Flasche liegen. Die Decke ist nützlicher, hast du Platz dafür?“
„Sollte klappen, kann sie am Rucksack festzurren“, gluckste er noch immer amüsiert und beschloss, das gleich zu erledigen, während Henry mit den Schuhen beschäftigt war.
„Meine Güte“, seufzte der Grauhaarige so theatralisch, wie Felix es schon länger nicht gehört hatte. „Hätte ich gewusst, dass der Planet dermaßen vor die Hunde geht, hätte ich mein Berufsleben nicht in der Praxis, bei der Beurteilung der Kohärenz meiner …“
„Äh … Hen…“
„… Patienten zugebracht. Trainiert hätte ich, wie ein …“, wetterte er am Bein des Toten zerrend vor sich hin.
„Hen… Hen …“
„… Irrer, das sag ich dir. Und mir diese langweiligen Survival-Shows ange…“
„Henry.“
„Was?!“, reagierte er endlich und der Schuh löste sich, Henry plumpste hintenüber. „Die Ziege?“
„N… Nein.“ Der Angesprochene sprang alarmiert auf, ignorierte die schmerzenden Knie und drehte sich im Kreis, um den Grund für Felix’ panische Stammelei zu entdecken. „Henry, komm her!“
Rasch ging er auf seinen Kammeraden zu, der vor der Wolldecke kniete und einen Zipfel hochhielt.
„Was ist lo… Oh.“
Sie schweigen eine Weile, starrten auf das Baby. Älter als ein paar Wochen konnte es nicht sein, abgesehen von der Decke war es völlig nackt und offensichtlich in einem kritischen Zustand. Unterkühlung, Mangelernährung, schwer zu sagen, wie lange es ohne Milch auskommen musste.
„Es lebt.“ Es war eher eine Frage denn Feststellung.
„Knapp.“
„Okay.“ Henry stand ächzend auf, ging zur Leiche und begann, dem vermeintlichen Vater die Jacke auszuziehen. „Hilfst du mir?“
„Was ist mit dem Mädchen?“ Felix sah sich auf der Bergwiese um. „Wir müssen die Ziege finden.“
„Bitte?“ Perplex hielt Henry inne und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Einen steifen Körper aus einer Jacke zu befreien war Schwerstarbeit. „Ziege?“
„Ja, ich habe mal gelesen, dass man Säuglingen Ziegenmilch geben kann, wenn …“
„Vergiss es“, unterbrach er ihn. „Wir lassen es hier.“
Felix entwich ein entsetztes Geräusch, er wollte protestieren, sich dem anderen widersetzen.
„Versuchs gar nicht erst. Ein brüllendes Kleinkind ist unser Todesurteil, da könnten wir auch ein Nebelhorn auf dem Hüttendach installieren. Zu gefährlich.“ Da war er wieder, Henrys Pragmatismus. Der Kopf des Jüngeren drehte sich, er spielte hunderte Szenarien durch, klammerte sich daran, eine Lösung zu finden, eine Möglichkeit, das Baby zu retten. Die Sonne war gänzlich aus ihrem Versteck gekrochen, tauchte die Alpweide in ihr kaltes Winterlicht. Schlussendlich überkam ihn ein Schluchzen und er flüsterte: „Töten wir es, damit es nicht länger leidet.“

Autorin: Rahel
Setting: Im Nirgendwo
Clues: Kohärenz, Holunderblüte, Maus, Alpaufzug, Sahara
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