„Danke, dass du gekommen bist“, begrüßte David Janmay, als dieser sein Kajak anband und reichte ihm die Hand. Die See war ruhig, wie meistens zu dieser Jahreszeit. „Ich bin froh, dachte schon, du tauchst nicht auf.“ Dieser Ort vor der Küste war ihrer, niemand paddelte zu diesem Felsen raus, zu verlockend war die kleine Inselgruppe, die knapp achthundert Meter weiter südlich lag.
„Der Verkehr auf der Neunundachtzig war garstig.“ Ächzend kletterte der Jüngere den Anstieg hoch und ließ sich neben David nieder. Unzählige Male waren sie an diesem Flecken Erde gesessen, hatten stundenlang geredet, sich geküsst und waren in ihrer Fantasie über den Horizont gereist.
„Toll schaust du aus. Die Farmluft scheint dir zu bekommen.“ Vier Wochen war es nun her, seit Janmay die Wohnung verlassen hatte. Ein Freund hatte ihm sein Gästezimmer angeboten und ihm Arbeit in den Stallungen beschafft. Die Umstellung war ihm leichter gefallen, als befürchtet. Die ländliche Gegend tat ihm gut, gab ihm Raum seine Gedanken zu sortieren, sich darüber klar zu werden, was er eigentlich wollte.
„M-hm“, brummte er und blickte auf den Ozean, wollte den anderen nicht ansehen. Das Treffen mit David fiel ihm schwer, trotzdem war es die richtige Entscheidung gewesen, seiner Einladung zu folgen. Ihnen stand ein schwieriges Gespräch bevor, es weiter hinauszuzögern würde es bloß schlimmer machen.
„Naja, auf jeden Fall ist es schön bist du da.“ Einige Minuten schweigen die beiden, unter ihnen rauschte das Wasser, glitzerte in zartem Orange.
„Weshalb hast du mich hergebeten?“, brach Janmay schließlich das Schweigen und hoffte, sein David nähme ihm die Aufgabe ab, das Unvermeidbare auszusprechen. Stattdessen drehte er sich ihm zu, strich ihm mit den Fingerkuppen über die Wange und schluchzte: „Du fehlst mir.“ Die Worte brannten in seiner Seele, ein Teil von ihm hätte ihn am liebsten umarmt, ihn nie wieder losgelassen. „So sehr.“
„Du fehlst mir auch.“ Er rutschte ein Stück weg, seine Beine baumelten über den Klippenrand, am Himmel wurde die Sonne vom Mond ersetzt. „Aber so simpel ist es nicht.“
„Ich verstehe das nicht“, schrie David und biss sich auf die Unterlippe. „Wir waren so gut zusammen, perfekt sogar. Und jetzt … Nach allem, was ich durchgemacht habe, kann ich dich nicht noch einmal verlieren!“ Wut mischte sich in die Melancholie, die Janmay auf dem Weg hierhin begleitet hatte.
„Du hast mich nicht verloren, David. Das war ein anderer.“ Es hatte lange gedauert, bis er zu dieser Erkenntnis gekommen war, vermutlich zu lange. „Ich bin nicht der Janmay, mit dem du dein Leben geteilt hast, das weißt du genauso wie ich.“
„Bitte sag sowas nicht“, flehte er, schloss die Augen und schüttelte heftig den Kopf. Indes verschwanden die letzten Strahlen des Sonnenuntergangs, die Brandung tobte im kühl-blauen Mondlicht.
„David …“, setzte Janmay an, wandte sich ihm zu und verstummte ob dem schmerzverzerrten Gesicht des Mannes, ohne den es ihn nicht gäbe. Der Reißverschluss von Davids Neoprenanzugs war gerade weit genug geöffnet, sodass die Blumenranke seiner Brusttätowierung hervorlugte. Es war Captain Hooks Krokodil, das Tier, das ihn Stück für Stück auffressen wollte. Tick-tock, die Zeit läuft ab.
„Hast du denn alles vergessen?“ David wischte seine Tränen fort, fixierte sein Gegenüber mit einem Ausdruck vollendeter Trauer. „Die Ferien in der Schneehütte? Die Bibliothek an der Sechsundvierzigsten? Der Regenschauer nach Georges Party? Unsere erste Wohnung, die keine Heizung hatte und unsere erste Nacht? Milly? Hast du Milly auch vergessen?“ Bilder flackerten in Janmays Geist auf – Urlaube, Hochzeiten, Beerdigungen, Geborgenheit, Streit, Abende auf der Couch, Lyrik-Lesungen in Georges Café, ihre Katze Milly und jedes einzelne „Ich liebe dich“, das sie einander zugeflüstert hatten. Es waren Bilder einer gemeinsamen Vergangenheit, die realer nicht sein könnte und für ihn dennoch nie stattgefunden hatte.
„Natürlich habe ich es nicht vergessen“, meinte Janmay nach einer Weile. „Ich trage einzelnen Moment mit dir in mir, wie dieser Ort hier, bist du mein Fels in der Brandung. Ohne dich wäre ich eine Unmöglichkeit.“ Wolken zogen auf, die Dämmerung verlor ihren Glanz.
„Trotzdem willst du gehen. Einfach so. Weg von mir!“, brüllte David. Die Verzweiflung sprudelte nur so aus seiner Stimme, drohte Janmay zu ersticken.
„Hast du überhaupt eine Ahnung, wie das für mich ist?“, begann er, rappelte sich auf und streckte seine Arme seitlich aus. „Jede verfluchte Erinnerung an all das, uns beide, unsere Liebe, gehören jemand anderem. Deinem Janmay, nicht mir. Kapier das doch endlich, ich bin nicht er!“
Sei nicht albern, selbstverständlich bist du es“, lachte der andere und der plötzliche Stimmungswandel machte ihn nervös. Deshalb war er vor einigen Wochen gegangen. Auch wenn die eingepflanzten Gefühle ihm vorgaukelten, David blind vertrauen zu können, fühlte er, dass etwas im Argen lag und das verängstigte ihn. „Glaubst du allen Ernstes, ich hätte dich von irgendwelchen Amateuren klonen lassen? Nein, das Niveau an Präzision, mit der an dir gearbeitet wurde, ist unerreicht. Du bist makellos, mein Janmay. Hast du gehört, MEIN Janmay, ich habe für dich bezahlt!“ Für einen Augenblick war die Welt dumpf, leer, der letzte Rest Farbe wich einer düsteren Vision in schwarz-weiß. David wäre niemals bereit ihn, sein Eigentum, freizulassen. Ein warmes Kribbeln breitete sich hinter seinem linken Ohr aus, wanderte von dort langsam zu seiner Schläfe und David trat näher. „Ich wollte dir die Chance geben, selbst zu Verstand zu kommen. Das war ein Fehler. Tick-tock!“ Neuronen feuerten, David hatte den Befehl gegeben und das Implantat führte ihn aus. Ihm blieben lediglich Sekunden, bevor das Krokodil in seinem Hirn jeden Willen zum Widerstand verschlang. Also sprang er. Vom Fels in die Brandung.