Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Schnee klebte im Saumaufschlag von Daniels dunkelblauer Chino, durch das Erkerfenster beobachtete er, wie die Vorstadtlandschaft von der weißen Masse geradezu verschluckt wurde. In der kalten Jahreszeit wurden die einfachsten Dinge mühselig, selbst der kurze Fußweg von der Tramhaltestelle ins Büro der Eheberatung war zu einer elendigen Rutschpartie geworden. Trotzdem, vielleicht sogar genau deshalb, mochte er den Winter, er gab Anlass zur Entschleunigung, zum Durchatmen und …
„Guten Abend, Herr Konrad“, sagte Doktor Gammerl, trat ein und hielt ihm zur Begrüßung den Ellenbogen hin. Er trug einen roten Wollpullover, der aussah, als könnte man mit ihm Hartholz glattschmirgeln, dazu eine beige, karierte Hose und eine roséfarbene FFP2-Maske.
„N’Abend“, brummte Daniel abwesend, besann sich und fügte sogleich an: „Vielen lieben Dank, dass Sie uns so spontan hereingequetscht haben.“
„Gerne, Herr Konrad.“ Die Sitzungen bei Doktor Gammerl kosteten ein kleines Vermögen, da war Flexibilität eigentlich zu erwarten. Allerdings war Höflichkeit wichtig, obwohl Daniel wenig von den allwöchentlichen Gesprächen mit dem Paartherapeuten überzeugt war, denn bislang hatte sich im Hause Konrad kaum etwas verändert. „Verspätet sich Ihre Frau?“, fragte der Doktor zur mondänen Max Bill Wanduhr hochschauend und krempelte seine Ärmel hoch, die Manschetten eines hellblauen Hemdes blitzten unter der Wolle hervor.
„Ja-haha“, begann er und machte es sich auf seinem üblichen Platz bequem, einem mit rotem Samt bezogenen Ohrensessel, von dem aus man einen wunderbaren Ausblick über auf den Hinterhof hatte. „Vermutlich hängt sie im Verkehr fest. Bei dem Chaos …“ Er gestikulierte auf das Schneetreiben, lächelte milde und klopfte Wassertröpfchen von seinen Oberschenkeln. Die Witterung war eine seiner Lieblingsausreden für Danielas Unzuverlässigkeit, in erster Linie, weil sie keine weiteren Erklärungen verlangte.
„Natürlich. Das Wetter meint es zu gut mit der Vorweihnachtsstimmung.“ Doktor Gammerl kicherte, Daniel nickte, während der Sekundenzeiger drei Schritte in die Zukunft ging. „Wollen wir auf sie warten?“
„Ja. Nein, ähm …“ Nervös zupfte er am Knopf seines Jacketts, er war aus irgendeinem Horn gefertigt, Daniel gefiel die subtile Struktur des Materials. „Nein, ich denke, es wird länger dauern. Wir sollten schon mal anfangen.“
„Wie Sie wünschen, Herr Konrad.“ Der Doktor linste auf seine Armbanduhr, ebenfalls ein Modell von Junghans, ein zeitloses Stück Handwerkskunst, das selbst zu seinem unsäglichen Pullover passte. „Haben Sie ein Anliegen, das Sie gerne mit mir besprechen möchten?“
„Nun, ähm …“, kam Daniel erneut ins Stammeln und wischte sich seine in die Länge gewucherten Haare aus dem Gesicht. „Naja, ich weiß nicht. Zur Adventszeit fühle ich mich meist sorglos“, gluckste er und lehnte sich betont gelassen zurück.
„Ach, da sind Sie aber eine Ausnahme, Herr Konrad.“ Gemächlich wandte sich der Psychiater um und schlenderte zu seinem Schreibtisch, auf dem neben etlichen Kinkerlitzchen, Papieren sowie einem zugeklappten Laptop ein bordeauxrotes Couvert mit goldener Schleife lag, das Daniel sofort ins Auge fiel. „Die meisten Leute stehen gerade zu dieser Zeit besonders unter Druck.“
„Das ist wohl so“, stimmte er leicht betrübt zu und fixierte den Stoff seiner Krawatte, die er von seiner Tochter Dani letztes Jahr zum St.-Nikolaus-Tag bekommen hatte. Sie war zartgelb mit feinen, orangen Punkten und ein wenig zu lang. „Für mich unverständlich, wo doch jetzt alles friedlich und verschneit ist, als hätte sich eine weiche Decke über die Welt gelegt.“
„Sie freuen sich auf Weihnachten?“, wollte der Doktor seinen Hemdkragen zurechtrückend wissen.
„Selbstverständlich.“ Für Daniel gab es tatsächlich keine schöneren Tage im Jahr, die Besinnlichkeit, die Ruhe und die randvolle Tasse mit Kakao, auf dem ein riesiges Marshmallow schwimmt. „Die Feiertage sind herrlich, der perfekte Moment zum Ausspannen. Man kann guten Gewissens eine richtige Schnarchnase sein, weil über Weihnachten keiner auf die Idee kam, über neue Kassenschlager diskutieren zu wollen.“
„Was ist mit Ihrer Frau? Sieht sie das genauso?“ Daniel lachte auf, schüttelte den Kopf und verwarf die Hände, woraufhin Doktor Gammerl einen Notizblock vor sich platzierte und verständnisvoll seufzte. „Die Feiertage sind ein Stressfaktor, insbesondere in Anbetracht dessen …“
„Für Daniela ist alles ein Stressfaktor“, feixte er seinen Arzt unterbrechend, beobachtete das Muster, das der schmelzende Schnee auf seinen Hosenbeinen hinterlassen hatte. „Manchmal glaube ich, sie kennt nur Hundstage.“ Amüsiert glucksend zog er seine Aktentasche heran und kramte einen Kalender im A4-Querformat heraus. „Wir witzeln oft darüber, wie miesepetrig sie ist, deswegen schenke ihr einen Hundetageskalender.“
„Bitte, was?“ Der Psychiater sah ihn verdutzt an, beugte sich vor und begutachtete Daniels Geschenk. Sein Ausdruck wandelte sich von verwirrt zu betroffen, als er sagte: „DAS wollen Sie Ihrer Frau zu Weihnachten schenken?!“ Seine Stimme überschlug sich beinahe, er rang derart krampfhaft um Fassung, dass seine Haut der Farbe seines Pullovers Konkurrenz machte.
„Naja, sie kriegt dazu eine Kette mit einem hübschen Brillantanhänger von Cartier“, wollte Daniel sich für sein vermeintlich unzulängliches Geschenk rechtfertigen, der Doktor war davon jedoch nicht beeindruckt, er plusterte sich regelrecht auf, der Strickpulli dehnte sich über seine Brust.
„Herr Konrad, erinnern Sie sich daran, wie wir letzte Woche darüber gesprochen haben, Sie sollen mehr Mitgefühl für die Trauer Ihre Frau aufbringen?“ Er rieb sich über die Augenlider und schnaufte ächzend aus. Wie er sich aufführte, war alles andere als professionell, stellte Daniel verärgert fest und blickte erstmal stumm auf seinen Ehering, den er erst kürzlich hatte reinigen lassen.
„Papperlapapp, es ist Weihnachten, was soll man da Trübsinn blas…“
„Herr Konrad!“, fiel ihm der andere ins Wort und starrte ihn unverhohlen an und ächzte enttäuscht: „Heute jährt sich der Todestag Ihrer Tochter, die Trauer Ihrer Frau ist angebracht und Ihnen, Herr Konrad, täte es gut, diese Tatsache nicht länger zu verdrängen.“
Es blieb eine ganze Weile still zwischen den beiden, bis sich die Tür öffnete und Daniela Konrad hereinkam. Sie hatte ihren naturfarbenen Kaschmirmantel eng um sich geschlungen, um den Hals gewickelt war wie immer die Stola, die Dani am Abend vor dem Unfall bei ihnen in der Garderobe vergessen hatte.