Marina hatte noch nie viel von Diäten gehalten, doch sie machte sich auch nichts vor: Sie mochte es zu essen und das war auch der einzige Grund, dass sie etwas übergewichtig war. Nicht die Supermärkte, nicht das angeblich so harte Leben, die Werbung oder ihre schreckliche Familie waren die Ursache dafür, nein, es war ihre Begeisterung für alles, was man mit Käse überbacken konnte. Eigentlich war das Marina egal; Hauptsache sie war trotzdem einigermaßen trainiert und bekam bei jedem Checkup ein zufriedenes Nicken von ihrem Arzt. Der böse Fernseher hielt sie zwar ab und an von ihren sportlichen Vorhaben ab, aber das machte den Sieg über den inneren Schweinehund nur noch süßer. Am Ende des Tages musste man die Sache mit Humor nehmen und konnte die Verantwortung nicht auf andere abschieben. Ein lautes Hupen und das Kreischen von den Bremsen eines Autos riss Marina aus ihren Überlegungen und als sie aufsah, konnte sie einen Geländewagen erkennen, der an der Kreuzung zum Stehen gekommen war. Der Fahrer lehnte sich aus dem Fenster und wetterte: „Volltrottel, ich habe Grün!“ Eine aufgescheuchte Fußgängerin rannte überstürzt von der Kreuzung und Marina konnte nur knapp ein Lachen unterdrücken, als sie in ihr ihre beste Freundin erkannte. Man konnte über Carla noch so viele gute Dinge sagen, aber eine Straße zu überqueren, ohne dabei beinahe das Zeitliche zu segnen gehörte zweifellos nicht zu ihren Stärken.
„Hey Carla“, rief Marina, erhob sich und winkte frenetisch, wobei sie die Aufmerksamkeit aller Gäste von Luigis Straßencafé auf sich zog, doch schließlich auch ihre beste Freundin aus ihren Tagträumereien aufwecken konnte.
Carla hatte sich erst gerade hingesetzt, als auch schon die Kellnerin auftauchte und sich danach erkundigte was sie wolle. Carla überflog die Getränkekarte und entschied sich schließlich für eine Cola Light, wonach die Kellnerin wieder von dannen zottelte.
„Ich habe gemeint, du magst die normale Cola besser?“, erkundigte sich Marina verwirrt. Carla machte ein energisches „Mhm-Mhm!“, schüttelte den Kopf, sodass ihre Locken flogen und fügte dann fest entschlossen hinzu: „Ich muss unbedingt abnehmen!“
Längst hatte Marina sich daran gewöhnt, dass ihre auffallend schlanke Kollegin mehr Probleme mit ihrer Figur hatte als sie selbst. Zuerst hatte Marina sich gedacht, Carla wolle sie subtil auf ihr Übergewicht aufmerksam machen, den Gedanken hatte sie jedoch nach einiger Zeit verworfen. Carla war einfach Carla, die noch jedes so kleine Speckröllchen als Anlass dafür nehmen konnte, sich eine Woche nur von irgendeinem von Diät X vorgeschriebenen Produkt zu ernähren.
„Hey, wusstest du schon, dass es morgen bei uns im Büro einen neuen Kopierer gibt?“, fragte Marina, die sich unverhältnismäßig auf das neue Gerät freute. Immerhin hatte sie sich lang genug mit der alten, ratternden Maschine herumgeschlagen, die sich nur in einem Drittel aller Fälle dazu herabgelassen hatte, ihr zu gehorchen. Carla lachte hell und wartete mit ihrer Antwort, bis die Kellnerin die bestellte Cola vor ihr platziert hatte und wieder verschwunden war. „Du hast wirklich an komischem Zeug Freude, meine Liebe“, meinte sie und fügte scherzhaft hinzu: „Schräger Vogel!“
„Das kannst du leicht sagen, ihr im achten Stock habt ja schon seit einem Jahr einen neuen Kopierer.“ Marina schob den leeren Teller beiseite, der sie mittlerweile zu stören begonnen hatte. Vor einer Viertelstunde waren darin noch ihre Ravioli gewesen, jetzt lag nur noch das Besteck da, das an die gut alte Zeit erinnerte, in der ihr Teller noch voller Essen gewesen war. Normalerweise war es ihr egal, wenn die Leute sie trotz ihres Gewichts mit einem großen Teller sahen, aber das hatte sich langsam und unauffällig geändert, seit sie sich im Büro immer besser mit Carla angefreundet hatte. Die Probleme, die ihre mittlerweile beste Freundin trotz ihrer Schlankheit mit ihrer Figur hatte, hatten auch Marina etwas mehr für solche Dinge sensibilisiert, wenn auch nicht besonders. Schon der Gedanke daran, dass ihre Mittagspause bald vorbei wäre, lenkte sie wieder ab und ließ sie einen Blick auf ihre Armbanduhr werfen; sie hatten noch ein paar Minuten.
„Irgendwie würde ich ja gerne etwas essen, aber ich möchte nicht mehr zunehmen“, überlegte Carla laut, was Marina auf eine Idee brachte. „Hey, bestell dir was und wir können dafür am Samstag Wandern oder Schwimmen gehen, ich wollte sowieso am Wochenende etwas Bewegung haben.“
„Ich weiß nicht“, zögerte Carla. Marina wusste, dass ihre Kollegin trotz ihrer Figur weniger trainiert war als sie. Ein unbeteiligter Beobachter wäre wohl nie auf die Idee gekommen, aber wenn es darum ging, einen Berg hochzulaufen, war Carla diejenige, die man schwer atmend auf der ersten Sitzbank wiederfand. Doch Marina hatte sich nun für die Idee begeistert und wollte nicht aufgeben. „Komm schon, ich will dich mitnehmen. Wir gehen zusammen durch dick und dünn.“ Sie machte eine Pause, da sie von einem etwas abrupt anhaltenden Taxi abgelenkt wurde, fügte dann aber hinzu: „Oder durch fett und fetter.“
„Okay, okay, weil du es bist.“ Carla wirkte zwar alles andere als motiviert, doch Marina war entschlossen, das irgendwie zu ändern, wenn sie auch noch nicht wusste, wie.