Firmament

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

„Es ist zwecklos“, murmelte Eda und schaute zu dem beinahe lebendig wirkenden Nachthimmel auf. Sie waren umgeben von Dunkelheit, keine Häuser oder Straßenlaternen erhellten die laue Nacht und es waren unzählige Sterne zu sehen, die man sonst kaum je bemerkte. Martin, der neben ihr auf der Motorhaube des alten Autos auf dem Rücken lag, entgegnete träumerisch: „Nein, du verstehst mich falsch. Klar, wir werden zu unseren Lebzeiten wohl kaum mehr zu den Sternen reisen können, doch darum geht es mir nicht. Es geht mir darum, zu sehen, zu verstehen.“
„Ich verstehe schon, was du meinst, aber meine Probleme löst das noch nicht, genauso wenig wie ein Spabesuch.“
Martin seufzte, blieb jedoch reglos. Er hatte sich vorgenommen, seiner besten Freundin zu helfen und würde nun nicht aufhören, es zu versuchen, gleichgültig wie schwer es werden würde. „Siehst du die Milchstraße? Sie ist so chaotisch, so unübersichtlich. Sie hat keine erkennbare Struktur, so wie du sie jetzt siehst. Aber wieso? Wir sind mitten drin, sehen nicht das ganze Bild. Wir werden nie das ganze Bild sehen können. In einer Galaxis hat es eine Milliarde Sterne und im Universum eine Milliarde Galaxien.“ Er machte eine Pause, bevor er hinzufügte: „Zumindest ist das eine plausible Schätzung. Jeder Stern, den du hier siehst, ist wahrscheinlich um ein Vielfaches grösser als unsere Sonne, die nochmals viel grösser ist, als die gesamte Erde. Und die Erde ist die ganze Welt, die wir kennen. Ein Sandkorn in einer Wüste, mehr sind wir nicht.“
„Wir sind klein und unsere Probleme auch, ist es das, was du mir sagen willst?“, fragte Eda mit einem leicht genervten Unterton. „Gegen solche Sprüche kann man sehr schnell abstumpfen.“
„Du hast deinen Job verloren, na und? Die Welt dreht sich weiter“, antwortete Martin. „Aber ja, wenn du dir dieses wundervolle Universum ansiehst, musst du doch zugeben, dass es nicht möglich ist, ohne Faszination in den Himmel zu starren. Wenn ich mich aufrege, egal wegen was, dann fahre ich hierhin und beobachte die Sterne, einfach so, ohne ein Ziel. Und wenn du es dir vorstellst, wirklich vorstellst, wie groß alles ist, wie lebendig, wie …“ Er machte eine Pause und überlegte kurz, bevor er nachdenklich hinzufügte: „Ich meine nicht, dass man es sich einfach vorstellen kann, man muss es wirklich erfassen. Es sprengt die Grenzen unseres Verstandes.“
Eda atmete tief durch und lehnte sich zurück. Vielleicht hatte er ja Recht und es war tatsächlich einen Versuch wert, immerhin, was konnte sie verlieren? Die scheinbare Unbeweglichkeit der Welt war nichts weiter als eine Illusion, immerhin drehte sie sich mit rasender Geschwindigkeit um sich selbst und machte ihre Bahnen um die Sonne, Jahr um Jahr, seit Menschengedenken. Doch nicht seit dem Anfang des Universums, nein, bei weitem nicht! „Es gibt keinen Maßstab dafür, den ich mir vorstellen kann“, flüsterte Eda, als sie mit einem Mal zu begreifen glaubte. „Das ist so überwältigend.“
„Siehst du?“, antwortete Martin. „Das ist es, was mir das Leben immer von neuem sympathisch macht. Wir sind so …“
„Klein und unbedeutend“, unterbrach ihn Eda mit belegter Stimme. „Das macht mir Angst. Alles, was wir kennen, ist absolut vernachlässigbar im großen Bild.“
„Aber wir haben doch unsere Perspektive“, wandte Martin ein. „Auch wenn wir so klein sind, so ist das Universum doch wundervoll. Wir werden wahrscheinlich nie in einem Raumschiff sitzen, aber nur schon entfernte Sterne durch ein Teleskop sehen zu können ist unglaublich.“
„Ich weiß nicht“, murmelte Eda. „Es ist schon schön, aber …“ Sie machte eine Pause und dachte nach, wollte erklären, was ihr daran Angst machte, so unwichtig zu sein. Wieso da mehr sein musste, eine Bedeutung. Doch stattdessen fiel ihr ein, dass die Erde keine Scheibe war, sondern eine Kugel und egal, was sie denken würde, an Tatsachen ließ sich nichts ändern. Alles, was sie tun konnte, war hinzusehen oder wegzusehen, versuchen zu verstehen oder sich über etwas aufzuregen, an das sie in fünf Jahren kaum mehr zurückdenken würde. Und was waren fünf Jahre schon für die Sterne? Anhäufungen aus Atomen, Millionen, ja Milliarden von Jahren alt und ihr Licht brauchte so lange, um zu uns zu kommen, dass manche von ihnen längst erloschen waren, wenn wir sie sahen. Und dann gab es da draußen noch all die Dinge, die man ohne Instrumente nicht sehen konnte und die sich viele gar nicht vorstellen konnten. Man musste sich wirklich klein fühlen, nicht wenn man sah, sondern wenn man verstand; oder besser, zu verstehen begann. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, klein und unbedeutend zu sein und langsam begann sie zu erfassen, was ihr Freund daran bewundern konnte.

Autorin: Sarah
Setting: Motorhaube
Clues: Freundin, Sandkorn, Teleskop, Spabesuch, Struktur
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