Die Gäste hatten sich in Grüppchen von drei bis sechs Personen an den Stehtischen versammelt. Es wurde über Dinge geplaudert, die in ihren Kreisen wesentlich erschienen – oft übers Geschäft, öfter über die bevorstehende Sportveranstaltung und am häufigsten über gemeinsame Bekannte, die nicht zu diesem Anlass eingeladen worden waren. Trotzdem herrschte eine erhabene Ruhe in der VIP-Lounge, die Gespräche blieben leise, abgesehen vom sporadisch erklingenden Kichern einer Mitarbeiterin aus der Personalabteilung. Wichtig fühlten sich hier fast alle, ein Gefühl, das ihnen am Herzen lag und sie trog. Emma glättete den Stoff ihres Kleides, es war aus nachtblauer Rohseide genäht, fein gewoben und hing locker von den zwei dünnen Trägern an ihren Schultern bis knapp unters Knie. Mit den centstückgroßen Hacken ihrer Stilettos fand sie schlecht Halt auf dem Hochflorteppich, weshalb sie sich auf dem Vorderfuß vorwärts balancierte und sich innerlich für ihre Schuhwahl schalt. Ihre Haut war noch immer feucht und ein wenig kalt, die Stadt lag seit Tagen unter einer hartnäckigen Nebeldecke gefangen, war zur Karikatur eines Film Noir Sets geworden.
„Na, die Herren“, begrüßte sie drei ihrer Vorgesetzten, als sie sich zu einer der kleinen Runden dazugesellte, und wischte sich eine Locke aus dem Gesicht. „Um was geht es?“
„Die Arbeit, wie üblich“, raunte der Vorstandsvorsitzende und drückte seine Brauen hinunter, bis von seinen Augen kaum noch etwas zu sehen war. Das Pathos in seiner Stimme war übertrieben, das meiste, was in der Firma geschah, war das.
„Hm.“ Sie strich sich mit dem Mittelfinger über den Mundwinkel. Ihre Lippen waren mit Diors Fireworks geschminkt – ein unkompliziertes, leicht transparentes Rot, das ihr eine legere Ausstrahlung verlieh. „Diskutieren wir darüber, ob wir im dritten Stock eine Spitzermaschine bekommen?“, feixte Emma und entlockte den Anwesenden kurzes Gelächter.
„Ach was, Frau Karch“, prustete der Vizevorsitzende, ertastete den Stiel seines Sektglases und stürzte den Inhalt in einem Zug hinunter. „Als bräuchten Sie zum Anspitzen irgendwelche Hilfsmittel außer ihrer hübschen Hände.“ Erneut lachten die Herren, lediglich einer verzog dezent die Miene.
„Wenn Sie meinen“, erwiderte Emma und fixierte ihre lackierten Nägel. Ihr Gleichmut war forciert, dennoch glaubwürdig, in den letzten beiden Jahren, in denen sie im Konzern arbeitete, hatte sie reichlich Gelegenheit gehabt, um sich in Abgeklärtheit zu üben. „Wenn wir schon über meine Hände sprechen, konnten Sie sich entscheiden, meine Fingerfertigkeit in der neuen Stelle auf die Probe zu stellen?“ Entgegen ihrem Instinkt lehnte sie sich vor, stütze sich neben der mit winzigen Amuse-Bouches gefüllten Etagere ab und präsentierte damit einen Einblick in ihr Dekolletee. Hastig griff sie nach ihrem Old Fashioned, umklammerte das Whiskeyglas geradezu.
„Na, also darüber wollen wir heute nicht sprechen, Frau Karch. Es soll schließlich ein vergnüglicher Abend werden“, wiegelte der Vorstandsvorsitzende ab, starrte unverblümt in ihren Ausschnitt und forderte dunkel brummend ihre Zustimmung: „Da geben Sie mir doch Recht.“
„Natürlich.“ Der Geruch der Lachshäppchen schwappte ihr in die Nase, einer von zwei Gründen für die plötzliche Übelkeit, die sie überkam. „Natürlich. Vertagen wir das.“ Der Vorsitzende und sein Vize nickten gutmütig, während der dritte im Bunde, eines der neueren Vorstandsmitglieder, die Situation sichtlich unwohl beobachtete und sich einen Schritt näher zu Emma stellte. Sie kannte diese Geste zur Genüge – ein hilf- und bedeutungsloser Versuch, Solidarität zu vermitteln, mehr war nicht zu erwarten. „Schon okay“, flüsterte sie dem Neuen zu, beschwichtigte ihn mit einem Lächeln und rückte von ihm weg.
„Gut, wollen wir?“, fragte der Vize, ehe er nach einem weiteren der Kristallgläser langte, die auf einem rustikal anmutenden Tablett standen, und es in wenigen Schlucken leerte. „Die Jungs legen gleich los.“
„Geht ihr ruhig vor“, schlug Emma vor, trat zurück und deutete zu den Sesseln, die von Beistelltischchen getrennt aufgereiht waren. „Ich will mich nur noch rasch auffrischen, meine Frisur hat unter dem Regen gelitten.“
„Tun Sie sich keinen Zwang an, Schätzchen“, begann der Firmenchef, beäugte sie von oben bis unten, Emmas heiterer Ausdruck drohte einer angewiderten Fratze zu weichen. „Sie sehen auch so entzückend aus. Die wilde Mähne steht Ihnen.“
„Das ist …“, sie kam ins Stocken, ein Kloß formte sich in ihrem Hals – am liebsten wäre sie ohne weiteres Wort auf die Damentoilette geflüchtet, sich dort ein Fort aus Klopapierrollen gebaut und auf einem Porzellanthron um ihre Würde geweint. Mühevoll besann sie sich ihrer Mission und schaute demütig auf den Boden, wo das Tischbein einen ovalen Abdruck im Teppich hinterlassen hatte. „Das ist zu freundlich von Ihnen.“
„Wir halten Ihnen einen Sitz frei“, versprach der Vize, zwinkerte ihr zu und führte den Neuen mit einem Schulterklopfer weg von den Horsd’œuvres und Emma.
„Wir sind gleich da drüben“, rief ihr das Vorstandsmitglied zu – womöglich um ihr Rückendeckung anzubieten, wahrscheinlicher um sein Gewissen zu beruhigen. Ohne ihn anzusehen, winkte sie ab und die beiden verschwanden zwischen den restlichen Firmengästen, die sich vor der Panoramascheibe auf die Sessel verteilten. Sie wollten das Spiel mit Wein und weiteren Leckereien genießen, statt sich wegen des allzu bekannten Lasters ihres Patrons zu sorgen.
Emma streckte ihre Zehen in den unbequemen Schuhen, hatte schon den Durchgang zu den Waschräumen im Blick, da nahm sie all ihre Courage zusammen und wandte sich an ihren Chef, der seine Krawatte zurechtzupfte.
„Entschuldigen Sie, ich … wegen der Beförderung“, stammelte sie, benetzte mit der Zunge ihre Zähne und würgte den ekelhaften Schleimpfropfen hinunter – zu gerne hätte sie ihn ihrem lüstern grinsenden Boss an die Stirn gespuckt. „Gilt Ihr Angebot noch?“
„Aber Frau Karch.“ Er gluckste, schien sich köstlich über ihre Nachfrage zu amüsieren. „Ich befürchte, die Lage hat sich mittlerweile geändert. Ihr Zögern lässt mich vermuten, dass Sie die Stelle nicht so sehr haben wollen, wie Sie behaupten.“ Sein Spott, seine schamlose Schadenfreude übertönten ihre Zweifel, mehr denn je war sie überzeugt von ihrem Vorhaben. Sie verlagerte ihr Gewicht von einem aufs andere Bein, kreuzte die Arme und presste ihre Brüste zusammen, wollte sicherstellen, dass er nicht widerstehen konnte. Langsam, beinahe ritualistisch, ballte Emma ihre Fäuste, führte sie vor dem Bauchnabel übereinander und bewegte sie im Takt auf und ab, als würde sie Kräuter in einem Mörser bearbeiten. Dabei ziepte der Klebstoff an ihrer Haut, der das Handy unter ihrem rechten Rippenbogen befestigte – sie winkelte den Ellenbogen an, bemüht darum, keinesfalls die Aufnahme zu behindern.
„Ich beteuere Ihnen, jede Aufgabe zu Ihrer vollsten Zufriedenheit auszuführen. Sie müssen mir bloß verraten, wonach Ihnen der Sinn steht, Herr Vorsitzender.“ Erst schielte er auf ihre rhythmisch pumpenden Hände, kam regelrecht ins Geifern, dann nach links und rechts, um sich zu vergewissern, nicht belauscht zu werden, bevor er Emma – sowie dem Handymikrophon und bald der Presse – die schmutzigen Details seiner Wünsche offenbarte.