Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Der Priester war ein guter Mann, dessen Wesen so durch und durch ergeben und gütig war, dass ich nicht richtig einschätzen konnte, ob ihm trauen sollte. Vielleicht, so hatte ich mich schon unzählige Male gefragt, seit wir das Gebiet seiner heimatlichen Diözese verlassen hatten, lag hinter seiner Freundlichkeit nichts weiter als Berechnung, denn welcher Mann, dessen zerstörter Körper jede Sekunde nach Schmerzmitteln schreit, schaffte es in diesen Zeiten seine menschliche Unschuld zu bewahren. Doch je weiter wir uns von L’Aquila entfernten und je tiefer wir in die Pinienwälder der Toskana ritten, desto eher wagte sich mein von weltlicher Paranoia geplagter Verstand, Hoyt zu vertrauen, selbst wenn mir seine Gutherzigkeit wohl für immer ein Rätsel bleiben würde.
„Gerome“, rief er mich, kurz bevor er sein Pferd durchparierte und sich umständlich vom Reitsitz schwang. Der Rock seines langen Gewandes wirbelte den mit Baumnadeln bedeckten Boden träge auf und kam erst zur Ruhe, als er mit fließenden Bewegungen einen fleckigen Apfel aus der Satteltasche holte. Mit dem gleichmütigen Lächeln, das sein Gesicht nie wirklich verließ, reichte er seinem Ross die Frucht und flattierte den muskulösen Hals.
„Lasst und rasten, die Tiere sind müde“, schlug er mir vor und ich hätte seine Bitte nicht einmal dann abschlagen können, wenn ein Waldbrand hinter uns gewütete hätte. Also stieg ich ebenfalls ab und begann damit, schweigsam meine Habseligkeiten und unseren Proviant abzuladen. Der Priester beobachtete mich dabei, so als würde er einen jungen Mönch bei der Gartenarbeit überwachen und trieb mich damit zu übertriebener Sorgsamkeit. Als mein Pferd, befreit von seiner Last, im flachen Boden des Pinienwaldes zu wühlen begann, schien er die Ungeduld in meinen Augen bemerkt zu haben. „Keine Sorge“, sagte er im väterlichen Tonfall, „wir werden frühzeitig eintreffen, kein Grund die Pferde zu Tode zu reiten.“
Natürlich galt meine Besorgnis nicht der Zeit, davon hatten wir mehr als genug, sondern denjenigen, die uns folgen würden, aber davon musste er nichts wissen. Die Anordnung war klar gewesen: Ich sollte ihn durch die Wälder und langgezogenen Hügelgebiete führen, große Straßen und Ortschaften meiden und ihn am Tag der Auffahrt zu einem kleinen Farcaster Hafen außerhalb Firenze leiten, wo bis vor kurzem noch die letzten Hawking-Schiffe geflogen waren. Wahrscheinlich wusste er bereits von den Verfolgern, denn während unserer Reise hatte er sich nicht ein einziges Mal über die Unannehmlichkeiten beschwert, die unser veraltetes Fortbewegungsmittel mit sich brachte und war stattdessen stets ohne zu murren auf seinen Wallach gestiegen. Vielleicht aber, genoss Hoyt es einfach nur, hoch zu Ross durch die Pinienwälder und Felder seiner Kindheit zu traben, so als wären die letzten Jahrhunderte und all die Katastrophen, die sie uns beschert hatten, nie geschehen.
Die untergehende Sonne verwandelte den Pinienwald in ein Lichtspiel, einen hölzernen Knochenfriedhof dessen Schatten die immerwährend tickende Zeit verdeutlichten, welche mich keinen Frieden finden ließ. Ich war bald fünfzig Jahre alt und hatte meinem Leben bisher nur wenig Freude verliehen, hatte meine naiven Wünsche verraten, um derjenige zu werden, den die anderen aus mir hatten machen wollen. Doch irgendwo im hintersten Versteck meiner Vorstellung, da war ich ein Fallschirmspringer, ein Pilot und ein Ritter geblieben und hatte mir damit ein kleines Stück ewiger Jugend bewahrt. Vielleicht, so dachte ich mir manchmal, hatte der Priester diese Träumereien in mir entdeckt und mich deshalb als sein Geleitschutz auserwählt. Wäre es gar möglich, dass er irgendwann auf unseren schweigsamen Ritten sein Geheimnis mit mir teilen würde oder wollte er diese Bürde niemandem auferlegen?
„Mein Pferd muss neu beschlagen werden“, riss er mich aus meiner Nachdenklichkeit und bot mir mit gelassener Körperhaltung ein Stück Brot an. Ich winkte dankend ab und beäugte die die Hufe seines etwas zu klein geratenen Lipizzaners, ehe ich mir einen Schluck aus meiner Wasserflasche genehmigte. „Ich werde die Eisen vor unserem Aufbruch abmachen, solange wir sie nicht auf hartem Straßenbelag reiten, können wir sie barfuß gehen lassen.“ Der Priester nickte und erhob sich mit einem leisen Stöhnen und wieder einmal wurde mir klar, dass sein ewiges Leben ihm nur Qualen gebracht hatte. „Vater“, begann ich nach einer Weile des Schweigens, „was ist auf Hyperion geschehen?“
Ich wusste, dass bisher niemand eine Antwort auf diese Frage erhalten hatte, dass Hoyt das Mysterium um sein unnatürlich langes Leben nie bloßgelegt hatte und doch schimmerte in mir die leise Hoffnung, er würde für mich eine Ausnahme machen. Der Priester schenkte mir ein ruhiges, beinahe hypnotisierendes Lächeln und legte seine vernarbte Hand auf meine Schulter, bevor er mir wortlos eine kleine Ampulle reichte. Darin schwappte eine zähe Flüssigkeit, die im Dämmerlicht wie Amber glänzte und mich ein wenig an Ahornsirup erinnerte. Es war Soma, ein starkes Narkotikum, welches seinen Namen einem antiken Kunstwerk verdankte, welches es war, wusste ich jedoch nicht mehr.
„Die Geschichte, die erzählt was auf Hyperion mit mir geschehen ist, ist nicht für die Unschuldigen bestimmt. Sie weckt die Gier nach Unsterblichkeit im Herzen und bringt nur Leid.“ Ich nicke und glaube zu verstehen, was er mir sagen will, also lege ich die Ampulle wieder zurück in seine Hände und blicke in die Ferne, währendem er sich das Soma spritzte.
Die Sonne war bereits vor Stunden untergegangen und hatte den feuchtwarmen Tagesdunst mit sich genommen und den Pinienwald in eine seltsam klare Atmosphäre getaucht. Der Priester schlief tief und fest und unsere Pferde standen entspannt und grasten das feine Unkraut, welches unter einer der Pinien wuchs, die wie ein erhobener Zeigefinger in den Himmel ragte. Ich entschloss mich, unseren Aufbruch alleine vorzubereiten und Hoyt noch etwas seinem Schlummer zu überlassen. Doch als ich meinen Sattel aufhob, sah ich durch die dicke Robe des Priesters etwas aufblitzen und hielt inne. Es war so rot wie ein Feuerwehrauto und je näher ich kam, desto mehr schien es nach mir zu rufen, also schob ich den schweren Stoff beiseite und betete, dass Hoyt nicht aufwachen möge.
Ich erstarrte für einen Atemzug und konnte nicht glauben, was ich sah. Auf der eingefallenen Brust des Priesters wand sich ein Netz dicker, leuchtender Adern, deren Verzweigungen ein Kruzifix aus wundem Fleisch und Licht formten. Ich versuchte mich dagegen zu wehren, verbrauchte all meine Kraft, um mich zurückzuhalten, doch schlussendlich war es mir unmöglich, es nicht zu berühren. Hoyts Schrei kam zu spät, meine Fingerkuppen lagen auf dem lodernden Kreuz und unvorstellbare Schmerzen durchzuckten mich, ehe mein Geist die Güte besaß, mich zu erlösen und sterben zu lassen.
Als ich wieder zu mir kam, fühlte ich mich so, als wäre ich in einem ewigen freien Fall gefangen. Panisch setzte ich mich auf und bemerkte Hoyts Gegenwart erst, als er mich kräftig durchschüttelte. „Mein Sohn, beruhige dich“, sagte er, doch der mitleidige Tonfall seiner Stimme bestätigte mich lediglich in meiner Furcht. „Was war das?!“, wollte ich heiser wissen und als meine brennenden Augen den haarlosen Kopf Hoyts ohne dessen Kapuze erblickten, glaubte ich zu ersticken. „Du hast das Cruciform berührt, nun wirst auch du ewig wiederkehren.“