Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Fuck, alles okay?“ Jillians besorgter Blick, als sie sich über mich beugt legt nahe, dass ich die Schimpfworte, welche ich normalerweise für mich behalte, diesmal tatsächlich ausgestoßen habe. Ich versuche, eine stoische Miene zur Schau zu stellen, keine Schmerzen zu zeigen. „Naja, besser als Hämorrhoiden ist es allemal.“
„Öh …“ Sie deutet mit dem Finger auf mich, schüttelt verwirrt ihre Lockenmähne und will mir aufhelfen. So ganz vertraut ist sie auch nach all den Jahren noch nicht mit meinem Nonsens-Humor, benötigt daher anderthalb Sekunden, ihn zu verarbeiten.
Mein gepeinigtes Aufstöhnen bringt sie von ihrem Vorhaben ab und sie beeilt sich, mich rasch wieder hinzusetzen. „Scheiße, ich hab mir den verfickten Knöchel geknackst“, wettere ich los und mache mich auf den schlimmsten besten Tag meines Lebens gefasst. Sie kraust die Nase und lässt sich neben mir auf den Trümmern unseres Bücherregals nieder, während ich stur und stolz dem Impuls wiederstehe, wimmernd mein Fußgelenk zu umklammern.
„Tja“, tönt sie fatalistisch, streckt sich und kramt eine Zigarette aus ihrer Jackentasche. „Niemand hat dir befohlen dich im Aufzug auf ein Bücherregal zu setzen.“ Dieses dämliche Grinsen, welches das Gesicht meiner seit heute Angetrauten ziert, hellt die Stimmung in der steckengebliebenen Liftkabine merklich auf.
„Falls es dir nicht auffällt, ich sitze auf dem Regal, du hast nicht spezifiziert, ob es dabei platt sein darf.“
Jillian kichert verhalten, zupft ihren Rock zurecht, ich beobachte sie mangels einer besseren Tätigkeit dabei und frage mich, wer sich einen Minirock anzieht, um Zügelboxen in die gemeinsame Wohnung zu schleppen. „Du meine Güte, so habe ich mir den Tag, an dem wir heiraten und meine letzte Möbel in unser neues Apartment zügeln wohl kaum vorgestellt; gefangen in einem Aufzug mit einem zertrümmerten Bücherregal.“
„Blackout“, erkläre ich schulterzuckend. Was soll man dazu groß sagen, außer den Humor der Situation auszukosten? Wenigstens lassen die Schmerzen nach, wahrscheinlich ist meine ursprüngliche Diagnose gar überdramatisch gewesen. „Machen wir das Beste daraus.“
„Sharon, wie verdammt nochmal soll ich das Beste daraus machen, dass sich meine Frau den Fuß verstaucht hat, weil ich sie herausgefordert habe, sich im Aufzug auf dem Regal einzunisten?“
„Ach bitte“, winke ich ab, „ist ja nicht so, als wäre ein Intercity drübergefahren, noch ist alles dran. Es sei denn du verwandelst dich in einen Zombie und kaust den Fuß ab.“
Der Lockenkopf verdreht ihre Augen, bis ich ernsthaft befürchte, sie könnten gleich aus ihren Höhlen springen. „Verdammt, wieso habe ich ein Horrorfilm-Fangirl geheiratet?“
„Weil ich cool bin?“, schlage ich blitzschnell vor, ehe ich auf meine vorherige Überlegung zurückkomme. „Also, wir sind hier im Halbdunkeln mit einem zertrümmerten Möbelstück eingesperrt, ohne Handy, ohne Notruf-Knopf; wie machen wir das Beste aus der Situation?“
Jillian mustert mich grüblerisch, bevor sich ihre Züge aufhellen: „Ich hab’s! Wir haben ein kaputtes und drei ganze Regale; wir bauen daraus ein Fort!“
Eines muss ich meiner Frau lassen: Nebst ihrer Angewohnheit, nach einigem Gezeter gelassen die optimale Lösung in jeder misslichen Lage zu finden, dient sie in kalten Nächten als praktischer Heizkörper. Und dank einer Taschenlampe, die an meinem Schlüsselbund hängt, können wir zu Recht behaupten, unsere neu erbautes Regal-Fort verfüge nebst einer humanoiden Zentralheizung ebenfalls über Beleuchtung.
Ich liege auf einer ehemaligen Seitenwand des großen Regals und starre die Furnier-Decke über uns an, auf der noch die Staubspuren von einem von Jillians Schinken, vermutlich dem Voltaire, zu erkennen sind.
„Sag mal …“, raunt sie mir zu und nimmt einen weiteren tiefen Zug von dem Joint, den wir in meinem Zigarettenpäckchen gefunden haben, „… wie kommt es, dass du auf dem Standesamt, ja gar beim Möbelschleppen zwar Drogen in der Hosentasche hast, aber das Handy oben in der Wohnung vergisst?“
„Och, komm“, lalle ich (oder zumindest kommt es mir in dem benebelten Zustand wie ein Lallen vor), „So ist es spaßiger! Zudem, wer außer uns kann sagen, seine Hochzeitsnacht in einem Bücherregalfort verbracht zu haben? Dagegen wäre ein gemütlicher Paintball-Abend ja geradezu ordinär.“
Das urplötzlich losbrechende Gegröle der Gelockten lässt mich zusammenfahren und für eine Weile paranoid werden. „Shar…“ Sie verschluckt sich, hustet und reicht mir den Joint, bevor sie keuchend fortfährt: „Stell dir vor, sie hätten im Mittelalter anstatt Paintball ein Turnier mit Mistgabeln ausgefochten! Wie witzig wäre das denn?“
Nun ist es an mir, amüsiert zu sein. Trocken erwidere ich: „Ich glaube, bei unsereins hätten sie die Mistgabeln für was anderes gebraucht. Und auf den Scheiterhaufen könnte ich offen gestanden verzichten, das wäre fast so tragisch, wie wenn du mich Mäuschen nennen würdest.“
„Ha!“, brüllt Jillian derart laut, dass unser Aufzugs-Shantytown in den Grundfugen erzittert. „Ein neuer Weg dich zu ärgern, Mäuschen! Macht insgesamt vierunddreißig.“
„Halt die Klappe, sonst hol‘ ich die Mistgabel“, gebe ich sogleich zurück. „Plus, wenn wir schon dabei sind: Hör auf, Möglichkeiten mich zu ärgern aufzuschreiben!“
Mit der übertriebenen Gestik einer, die stoned ist, beschwert sich Jillian: „Ich habe mein Notizbuch oben.“
„Tja, so viel wie du gekifft hast, wirst du dich nie wieder daran erinnern.“ Feixen muss sein, vor allem ist es zweifelsohne wahr, da sie sogar in ihrem Normalzustand ein Wirrkopf ist.
„Ich poste es auf Facebook, dann vergesse ich es nicht“, triumphiert sie, nur um sofort den Fehler in ihrem Plan zu erkennen. „Scheiße. Kein Handy.“
„Du?“, breche ich das Schweigen, das ziemlich lange angehalten hat. Jillian gibt ein erschrockenes Schnarchgeräusch von sich, fährt hoch und stößt sich den Kopf an einem Brett. „Flitzekacke!“
„Das klang hohl.“
„Du mich auch.“ Im schwächer werdenden Licht der Taschenlampe kann ich ausmachen, wie sich ein dümmliches Schmunzeln auf ihre Lippen schleicht.
„Muss wahre Liebe sein.“
„Ach, halt die Klappe. Was wolltest du fragen?“
„Ich habe nachgedacht und vermute, das wird nicht halten“, teile ich meine Befürchtung mit ihr. „Ich meine, Flickwerk ist schön und gut, darauf vertrauen sollte man allerdings unter keinen Umständen.“
Jillian ist bewegungslos und flüstert eindringlich: „Hey, hey, hey, wir sind erst einen halben Tag verheiratet, gib uns doch eine Chance!“
„Oh“, mache ich, „nein, ich meinte dein Fort. Immerhin ist mein fülliger Hintern noch auf dem Regal, wenn es eine Erschütterung gibt, zum Beispiel wenn der Fahrstuhl beschleunigt …“
„Das Ding hält, ich bin Mathematikerin und du kommst kaum mit Tabellenkalkulation klar“, fällt sie mir ins Wort. „Wenn alles zusammenkracht, kannst du mich auf Schadenersatz …“
Weiter kommt sie nicht, denn das Licht über uns flammt auf und die alte Rumpelkiste von einem Fahrstuhl setzt sich in Bewegung. „Scheiße, der Joint ist in meinen Ausschnitt gefallen!“
Alarmiert fahre ich zu ihr herum, wobei ich mit der Schulter ein tragendes Brett des Forts streife und zum zweiten Mal heute das Opfer eines Markenmöbel-Kollapses werde, nur dass es diesmal ein Doppelbegräbnis ist.
Als der Lift zum Stehen kommt, sickert die Realisation in mein Bewusstsein, was geschehen ist. „Jillian? Alles dran?“
„Ja, bis auf mein Ego …“, murrt sie. „Ich habe nur ein Bein frei, der Rest ist unter dem Fort begraben.“
„Dito, bloß ist es bei mir eine Hand. Und was ist der Plan?“
„Na ja, du hast noch eine Hand, also wedelst du panisch damit, wenn jemand in den Aufzug tritt. Was sonst?“
Sie ist wirklich eine Optimistin bis zum bitteren Ende.