Ein nicht enden wollender Strom. Widerlich. Ann-Christin versuchte, das ekelhafte Gefühl auszublenden. Zum hundertsten Mal heute griff sie hinter sich und zog den nassgeschwitzten Seidenstoff von ihrem Rücken. Warum kam denn dieser verdammte Fahrstuhl wieder nicht? Ann-Christins Faust hämmerte auf die altertümliche Bedienungstafel. So alt wie das Haus. Einhundert Jahre. Der Rufknopf des Fahrstuhls steckte in der Fratze eines Fauns. Jugendstil. Seltsam für diesen Verwendungszweck. Seltsam wie das ganze Haus.
Zeit verstrich. Der Fahrstuhl hielt wie festgenagelt in der ersten Etage. Ann-Christin konnte den riesenhaften Faunkopf deutlich sehen, der am Boden der altertümlichen Fahrstuhlkabine angebracht war. Überall grinste einem dieser Faun entgegen. Der Architekt, der vor über hundert Jahren dieses Haus gebaut hatte, musste eine zwanghafte Vorliebe für den gehörnten Waldgeist gehabt haben. Sie drückte wieder auf den Knopf im Maul des Fauns. Endlich. Ein metallisches Rasseln setzte ein. Ich fasse es nicht! Der Fahrstuhl fuhr nach oben, statt nach unten. Hielt. Stille. Eine Etage. Sein liebstes Spiel. Nun stand er im Zweiten und breitere Bahnen Schweiß liefen Ann-Christins Rücken entlang. Sie blickte nach oben und seufzte. Fast schien es ihr, als wenn die Fratze im Fahrstuhlboden die Zähne bleckte. Aber das war natürlich Unsinn. Sie straffte entschlossen den Rücken und schlüpfte aus ihren Vierzehn-Zentimeter-Heels. Sie sah nach oben. Sah das sehr ferne Glasbild an der Decke des Treppenhauses, fünf Stockwerke über ihr. Fünf verdammte Geschoße über ihr. Und alle verbunden von einer ausladenden Treppe und hunderten tödlichen Stufen Die Mortalitätsrate unter den Bewohnern der oberen Geschoße musste in der Hitze des Sommers enorm sein. Sie fasste die Aktenmappe fester und nahm das erste Stockwerk in Angriff. Entspann dich, sagte ein Gedanke und im selben Augenblick schüttelte sie den Kopf. Warum sollte sie sich entspannen? Woher kam dieser Gedanke? Sie lief regelmäßig Marathon, war körperlich fit. Diese Treppe war selbst in der momentanen Sommerhitze keine wirklich Herausforderung für sie. Und doch, irgendetwas, eine Stimme in ihr, warnte sie. Da war wieder dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Wieder sah Ann-Christin nach oben und für einen kurzen Augenblick glaubte sie, die Augen des Fauns aufleuchten zu sehen. Was für ein Unsinn! Sie schüttelte den Gedanken ab und stieg entschlossen eine weitere Runde empor. Als sie das zweite Stockwerk fast erreicht hat, ruckte der Fahrstuhl kurz, blieb dann aber still. Noch drei Treppenstufen und sie erreichte den Treppenabsatz. In einem Anflug völliger Irrationalität zog sie ihre High-Heels wieder an. Sie wollte diesem Fahrstuhl nicht barfuß entgegentreten. Was für ein bescheuerter Gedanke! Sie wollte auf den Knopf im Maul des Fauns drücken, da setzte sich das Biest bereits wieder in Gang. Ann-Christins Hand schnellte überrascht zurück und der Fahrstuhl surrte in die Tiefe, Richtung Erdgeschoß. „Wie du willst“, sagte sie und murmelte noch ein unfeines Wort hinterher. Ann-Christin machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte, so selbstbewusst es in ihrem klitschnassen, durchgeschwitzten Zustand möglich war, dem dritten Treppenabsatz entgegen. Wieder eine halbe Treppe weiter surrte die perfide Kabine an ihr vorbei nach oben. Und im selben Moment, in dem sie die dritte Etage erreichte, glitten vor ihr die Kabinentüren auf. Einladend. So einladend wie ein Spinnenbiss. Einsteigen oder nicht? Wieder murmelte sie ein unfeines Wort, stieg dann aber mit zwei festen Schritten ein. Bevor es sich das Biest wieder anders überlegt. Sie drückte auf die Fünf. Jeder der Stockwerksknöpfe steckte ebenfalls in einem kleinen Faunkopf. Dieser Architekt war besessen. Seltsamerweise löste das Wort „besessen“ einen leichten Schauer in ihr aus. Besessen. Sie schüttelte den Kopf, während die Türen zuglitten und die Stahlkabine in geradezu devoter Weise dem fünften Stock entgegen schnurrte. Nur einen Moment später hielt die Kabine vor dem fünften Stock, die Türen glitten auseinander. Alles war still im Treppenhaus.
Ann-Christin hielt ihr Smartphone an die Türkontrolle. Samtig schnappte das Türschloss auf. Ann-Christin trat ein und sofort umfing sie klimatisierte Frische, garniert mit dezentem Rosenduft wie in einem Blumenladen. Noch im Flur ließ sie die Heels fallen, streifte Bluse und Hose ab. Genussvolles Frösteln auf feuchter Haut. „Sarah?“
„Bin im Arbeitszimmer.“
Ann-Christin griff nach einem an der Wand lehnenden Besen und vollführte mit ihm einige Tanzschritte durch den Flur. Sie genoss die wohltuende Kühle. Sarah saß an ihrem Schreibtisch, Zeichenkolonnen huschten über parallele Bildschirme. Ihre schlanken Finger flogen über die Tasten. Ann-Christin liebte das klickende Geräusch, das Sarahs Fingernägel dabei verursachten. Sie tänzelte hinter ihre Freundin und küsste sie zärtlich in den Nacken. „Der verdammte Fahrstuhl ist wieder nach oben gefahren. Das Teufelsding!“
Damit hat es gleich ein Ende“, gab Sarah triumphierend zurück und warf die Heftklammer auf den Tisch, die sie im Mundwinkel gehabt hatte. Sie griff in Ann-Christins blonde Mähne und zog sie zu sich. „Ich habe dieses Ding in unsere elektronische Wohnungssteuerung eingebaut.“ Sie küsste Ann-Christin. „Ab jetzt kannst du das Biest mit deinem Smartphone über unsere App rufen. Dafür“, Sarah betrachtete lächelnd ihre Freundin, „wirst du mir gleich einen Gefallen tun.“
Ann-Christin grinste. „Alles, was du dir wünschst, Großmeisterin der Technik. Ab wann funktioniert das?“ Sie tänzelte aus dem Arbeitszimmer in Richtung Küche. Ihr stand der Sinn nach einem großen Glas eisgekühlten Chardonnay.
Sarah dagegen starrte, plötzlich erstaunt, auf ihre Bildschirme – gab keine Antwort.
Doch Ann-Christin wusste es schon. Sie stand vor dem elektronisch gesteuerten Eisschrank und sah die Fratze eines Fauns im Bediendisplay. Fast im selben Moment hörte sie aus dem Flur das samtige Verriegeln des Türschlosses.
Ich weiß nicht, ob ich künftig Fahrstühlen mit irgend einem Bezug zu Faunen künftig trauen werde, wenn sie so ein Eigenleben entwickeln. Zum Glück sind die ja sehr selten und gehorchen üblicher Weise auf’s Wort.
Wann gibt’s mehr von Ann-Christin und Sarah?
LG Gabi
Ich weiß garnicht, was Ihr alle habt. Chiron ist wirklich ein ganz netter Faun, der will nur spielen. Okay… er kann auch ruppig sein, aber wirklich hässlich wird der nur zu Lichtgeistern, die kann er nicht ausstehen ;)
Aber nicht an deiner Frage achtlos vorbeizusegeln: Wenn mir in den Arbeitspausen zu ‚Erased‘ Zeit bleibt, dann kümmere ich mich um unsere drei Freunde. Versprochen.
Na da bin ich aber froh, dass ich nicht zu den Lichtgeistern zähle ;-) und dass der verspielte Chiron weiter in Deinem Kopf herumspukt!
LG Gabi
Ohje, und ich fand Fahrstühle vorher schon gruselig. Aber jetzt…
Auf jeden Fall eine spannende Geschichte. Hat mir sehr gut gefallen. Gern mehr davon, lieber Jürgen Albers. ?
Liebe Grüße, Julia
Vielen Dank für deinen positiven Kommentar, liebe Julia.
Mich reizt die Geschichte des Fauns ungeheuer… vielleicht wird eine größere Geschichte daraus. :)
Hey, wie genial ist das denn.
Da weiß ich doch jetzt warum ich eine Abneigung gegen Fahrstühle habe. Diese Dinger haben einfach ein Eigenleben und die Spiegel darinnen dienen doch nur zur Kontrolle wer einsteigt *Paranoia aus* ?
Tolle Geschichte, konnte mir alles sehr gut vorstellen, besonders das Verriegeln des Türschlosses hallt mir noch nach.
Danke für die kurzweilige Unterhaltung
Liebe Grüße
Kerstin
Hallo, liebe Leser*innen,
ich hoffe, die Geschichte um Sarah, Ann-Christin und ihren unliebsamen Mitbewohner hat Euch gefallen!? So etwas passiert in der Realität natürlich nicht. Ihr könnt weiterhin beruhigt Fahrstuhl fahren. Ganz sicher … ? Ehrlich.
Wenn Ihr mehr von Ann-Christin und Sarah lesen wollt, lasst es mich wissen. Und natürlich auch, ob Euch die Geschichte gefallen hat. Und… fast wichtiger, warum sie Euch vielleicht nicht gefallen hat. Kritik ist willkommen ?
Habt einen schönen Tag!
Jürgen
P.S. Es IST wirklich ganz sicher in alten Fahrstühlen.
P.P.S: Meistens