Fortsetzung und Schluss zu: „Nachmittagstee und Menschenjäger“.
„Meinst du, sie sind hier?“, erkundigte sich Addison so leise sie konnte. Connor wandte sich vom Fenster ab, durch das er den Straßenzug überblicken konnte und erwiderte: „Ich kann sie jedenfalls nicht sehen. Ich denke, wir haben sie abgehängt und sind hier drinnen sicher.“
In dem Schlafzimmer im ersten Geschoß eines alten Backsteinhauses, in dem die beiden Kameraden nach der Schießerei im Teehaus Zuflucht gefunden hatten, schienen sie tatsächlich ziemlich sicher zu sein; sie konnten sich nicht vorstellen, dass ihre Verfolger all die Häuser hier im Quartier durchsuchen würden. Addison vermutete, dass sie wohl den Jeep und die Vorräte verloren hatten, doch immerhin schienen sie mit dem Leben davongekommen zu sein. Es war zwar mitten in der Nacht, aber der Mond tauchte alles in sein weißes Licht, sodass sie allfällige Gegner früh würden kommen sehen. „Sag mal …“, begann Addison und unterbrach sich, um den Satz nach einer kurzen Pause von neuem anzufangen. „Ich bin ja der Grünschnabel von uns beiden, vielleicht bin ich ja zu naiv – aber was genau war das Problem, das diese Typen mit uns hatten?“
Connor blickte sie ungläubig an und erwiderte: „Ganz einfach: Sie wollten unsere Vorräte klauen, wir haben einen von denen umgebracht und dann wollten sie sich rächen.“
„Ich weiß“, entgegnete Addison etwas genervt, wobei sie nicht recht wusste, ob sie sich darüber aufregte, eine derart offensichtliche Antwort zu bekommen, oder darüber, dass ihre Frage nicht gut gestellt hatte. „Was ich meinte ist, ob man sich heutzutage noch Rache leisten kann. Ist das nicht viel zu riskant?“
„Deinen Narzissmus leistest du dir ja auch noch“, entgegnete er und deutete auf ihre Perücke, bevor er es sich anders überlegte und hinzufügte: „Sorry. Ich denke, die Typen hatten einfach Prinzipien.“
„Ich habe noch nie zuvor auf jemanden geschossen“, murmelte Addison etwas abwesend und fuhr dann fort: „Heute habe ich einen Fremden wegen ein paar Konserven umgebracht.“
„Na großartig, warum nehme ich immer die Neulinge mit“, murmelte Connor so leise, dass er zu glauben schien, nur er hätte es hören können, bevor er dann antwortete: „So ist das Leben hier draußen und wenn du weiterhin mitkommen willst, musst du damit rechnen, es jederzeit wieder tun zu müssen.“
Addison zögerte wegen seiner ersten Bemerkung kurz, überwand sich dann aber trotzdem dazu, zu sagen was sie beschäftigte: „Mein Problem ist nicht, dass ich Angst hatte oder hätte sterben können, das macht Sinn und ist menschlich. Nicht einmal, dass ich jemanden erschossen habe …“ Sie verstummte und Connor, nun neugierig geworden, erkundigte sich: „Was um Himmels Willen ist dann dein Problem?“
„Es hat mir Spaß gemacht“, sagte sie möglichst ruhig, doch sie glaubte, dass man ihr die Unsicherheit in der Stimme anhören konnte, als sie wiederholte: „Es hat mir Spaß gemacht, einen Menschen umzubringen. Als ich gesehen habe, wie er gestorben ist, hätte ich beinahe selbstzufrieden grinsen müssen. Ich hatte keine Ahnung, dass so etwas in mir steckt.“
Connor sagte erst nichts, sodass das Zirpen der Grillen, welche zusammen mit der übrigen Flora und Fauna langsam die Stadt zurückeroberten, zu vernehmen war und das Schweigen bedrückend über dem Raum lastete. Schließlich schien er sich zu einer Antwort entscheiden zu haben. „Dann bist du besser für diesen Job geeignet, als ich es dir zugetraut hätte.“
„Vielleicht“, begann Addison und zuckte mit den Schultern. Gerade, als sie sich überlegte, was sie noch sagen könnte, zischte ihr Kamerad: „Was war das?“
„Was?“, entgegnete sie genauso leise, erhob sich und humpelte geduckt in die Nähe des zerbrochenen Fensters. Er deutete auf einen Glascontainer, der am Straßenrand stand. „Da hinten hat sich etwas bewegt.“
Addison griff nach dem Fernglas, dass sie sich umgehängt hatte und versuchte angestrengt, zwischen den scharfen Schatten etwas zu erkennen. „Ich sehe nichts“, wisperte sie.
„Doch, da hat sich bestimmt etwas bewegt“, gab Connor zurück. „Ich bin mir sicher.“
Sie suchte weiterhin die Gegend um den Container ab, bis sie unvermittelt zu Kichern begann und ihm das Fernglas reichte. „Das war ein Igel.“
„Na super“, murrte Connor trocken, während er selbst einen Blick durch das Fernglas warf. „Da scheint tatsächlich nichts zu sein, ich denke es ist das Beste, wenn wir aufbrechen so lange es noch dunkel ist. So haben wir etwas besseren Schutz und außerdem wird das ein langer Marsch.“ Er warf einen besorgten Blick auf Addisons Bein, doch sie nickte verbissen. Sie würde sich keine Schwäche anmerken lassen, nicht jetzt. Auch wenn sie das nicht erwartet hätte, nach ihrem Erlebnis des letzten Tages wollte sie mehr denn je zu der Gruppe gehören, welche die Stadt nach Lebensmitteln durchforstete. Sie hatte genug davon, im Camp zu sein, Blockhäuser zu reparieren und Kartoffeln anzubauen. „Okay, gehen wir.“
Das Treppenhaus hatte nur sehr kleine Fenster und so hätten sie ohne die im Jeep liegengebliebenen Taschenlampen kaum die eigene Hand vor den Augen erkennen können, doch immerhin waren Schemen der Stufen auszumachen. Während sie versuchten, möglichst leise die hölzern knarrende Treppe hinunterzugehen, trat Addison gegen einen Kehrichtsack (oder sie hoffte zumindest, dass es einer war) und unterdrückte einen Fluch. „Grünschnabel“, neckte sie Connor leise, jedoch lauschten sie trotzdem beide angespannt, ob sie jemand gehört hätte, doch nichts tat sich, also gingen sie wortlos weiter. Insgeheim zweifelte Addison noch immer daran, ob sie gut genug darin sein würde, sich hier draußen durchzuschlagen oder ob sie schon sehr bald dabei sterben würde. Doch auch wenn sie nicht genau hätte sagen können warum, sie hatte sich schon seit mehreren Jahren, seit sich das größte Chaos gelegt hatte, nicht mehr so lebendig gefühlt. „Es verändert dich für immer“, hatte ihr Connor vor einiger Zeit gesagt, damals als sie ihn das erste Mal gefragt hatte, ob sie mitkommen könne. Bis heute wusste Addison nicht, ob er damit den Zustand der Welt oder die Erlebnisse in der verlassenen Stadt gemeint hatte, doch es spielte für sie keine Rolle mehr. Bis zu dieser Nacht hatte sie die Gefährten, welche kalt oder auf eine andere Art anders geworden waren, immer mit Distanz, Verachtung oder Abscheu betrachtet. Nun begriff sie: Es gab tatsächlich Menschen, die unter solchen Extrembedingungen in einer zerstörten Welt und ohne die Sicherheit einer Gesellschaft besser funktionierten und denen es so auch noch gefiel. Addison hätte sich nur nie träumen lassen, dass sie eine davon war.