Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Diese Geschichte ist Teil der lose verbundenen Story-Reihe „Weihnachtsdorf“.
1. Akt: Advent, Advent, der Bart, der brennt!
„Ho Ho Ho!“, lachte der Weihnachtsmann durch das beinahe leere Einkaufszentrum. Das schaurige Echo, das fast wie das Kichern des Jokers klang, erreichte ihn erst wenige Sekunden später und ließ ihn verstört auf seinem Sessel erstarren. Hier auf dem Podest, wo er die Haupthalle überblicken konnte, fühlte er sich mächtig, er war entspannt. Besonders wichtig war dabei die sitzende Haltung, denn Bewegung war bei seiner Leibesfülle zu anstrengend. Nicht einmal vier Rentiere brachten mehr genügend Zugkraft auf, um mit dem Schlitten von der Eisbahn abzuheben. Da der durchschnittliche Amerikaner immer übergewichtiger wurde, hatte auch Santa mithalten müssen, damit er weiterhin glaubhaft als fröhlicher, untersetzter Mann zu erscheinen konnte – mit tragischen Konsequenzen. Es kam, wie es kommen musste: Vor einigen Jahren war er knapp oberhalb eines prasselnden Kaminfeuers steckengeblieben, mit dem Resultat, dass ein veritabler Bartbrand seine Gesichtspracht drastisch dezimiert hatte! Natürlich ließe sich argumentieren, er habe, beduselt vom vielen Eierpunsch, die feuerfeste Bartwichse vergessen, die für das Ausüben seines Berufs unabdingbar war – er wäre nichtsdestotrotz im Kamin steckengeblieben, sodass jede dahingehende Erkenntnis lediglich ein kleiner Trost für den seines Bartes beraubten Mann war. Sogleich hatte Santa sich entscheiden, fortan seinen Platz in dieser typisch vorstädtischen Mall einzunehmen, in der gutbürgerliche Familien mit durchschnittlichen Namen wie Simpson, Griffin, Smith oder Belcher einkauften, wobei sie ihre Kinder auf den Schoß eines fremden Immigranten vom Nordpol setzten, der ihnen Süßigkeiten gab. Aber niemand sollte jetzt den Verdacht hegen, dass der Weihnachtsmann seinen Job nicht liebte, nein! Er fand ihn schlicht und ergreifend wundervoll, auch wenn sein neuer Bart falsch und sein flauschiges Haar im Laufe der Zeit einer Glatze gewichen war, Santa liebte das Glitzern in den Kinderaugen, ganz einfach, weil er die Kleinen mochte, nicht so wie ein Priester, sondern so wie ein harmloser Onkel, der Kakao kocht.
2. Akt: Ihr Kinderlein kommet, das ist ein Überfall!
Die meisten Leute waren schon nach Hause gegangen und der Weihnachtsmann freute sich auf das prasselnde Kaminfeuer in der Villa, die er gemietet hatte. Kämen die Rentiere mit der Zuglast klar, könnte er vom Nordpol pendeln – da diese Zeiten nun vorbei waren, nutzte er das geheime Weihnachtsdorf als Sommerresidenz. Die Elfen hatten eine prosperierende Wirtschaft sowie eine lebendige Kultur – sie konnten auch einige Monate ohne ihn überleben. Gelangweilt pulte der Nikolaus seinen Bartkamm aus den Tiefen seines roten Anzugs und begann damit, seine angeklebte Pracht zu kämmen.
Er war so mit der Bartpflege beschäftigt, dass er die drei Gangster in ihren schwarzen Kampfanzügen erst sehen konnte, als es bereits zu spät war. Sie bauten sich vor ihm auf, bedrohten ihn mit ihren Automatikwaffen, während Kunden schreiend aus der Mall rannten und das Chaos ausbrach. „Hände schön dahin, wo ich sie sehen kann, alter Mann, dann geschieht dir nichts!“, fuhr ihn der Anführer an und wedelte dabei mit seiner Maschinenpistole herum, als ob er ein Orchester dirigierte. Santa, der zuerst vor Schreck eingefroren war, konnte nicht anders – seine Wut gewann die Oberhand. „Junger Mann, wenn du glaubst, hier einfach hereinzumarschieren, ja gar den Weihnachtsmann zu bedrohen, hast du dich geschnitten! Das gibt eine gehörige Portion Kohle für dich!“
„Hey, der Kerl im Nikolauskostüm will den Helden spielen“, rief der Anführer über die Schulter seinen Kumpels zu, bevor er ein Feuerzeug aus der Tasche seiner Bomberjacke kramte. „Das können wir nicht auf uns sitzen lassen, was?“ Er machte einen Schritt auf Santa zu und hielt das Zippo unter die Spitze des langen Gesichtsschmuckes, als er hämisch erklärte: „Sieht so aus, als hätte der Krümelfänger einen akuten Befall von Bartflechte, da hilft nur noch Brandrodung!“
Da die weiße Pracht Feuer fing, riss der Weihnachtsmann den falschen Bart von seinen Wangen und warf ihn panisch auf den Boden; die grauenvollen Bilder des ersten Bartbrandes zuckten durch seinen Kopf. Was hätte er jetzt nicht für ein Benzodiazepin gegeben?! Immer schön ruhig bleiben, dachte er sich, denn diese Psychos hatten keine Ahnung, dass er der echte Santa war. Sicherlich glaubten sie, er sei ein wehrloser alter Kerl, der keine Bedrohung für sie darstellte. Na, die würden ihr blaues Wunder erleben, Ho Ho Ho!
3. Akt: Yippee ki-HoHoHo, little Sucker!
Sie hatten Santa einfach so stehen lassen, nachdem sie mit ihren Maschinenpistolen die Kugeln am Christbaum zerballert sowie seine Gucci-Nikolausstiefel und die Prada-Zipfelmütze geklaut hatten. Nun waren sie damit beschäftigt, die einzelnen Geschäfte auszuräumen. Um Santa schienen sie sich nicht weiter zu scheren, wohl weil sie glaubten, der glatzköpfige, bart- und stiefellose Kerl würde es sicher nicht wagen, über die Glassplitter zu gehen.
Aber Santa war nicht mehr aufzuhalten, er hatte schon mehrere Barschlägereien mit dem Grinch überstanden und war sogar mal gezwungen gewesen, dem Osterhasen eins hinter die Löffel zu geben. Der alte Haudegen, der er trotz Essstörung dennoch war, erhob sich und verzog sogleich ob der Baumkugelsplitter das Gesicht. „Scheiße“, zischte er durch das Einkaufszentrum, aus dem längst alle vernünftigen Bürger geflohen waren, als sich seine weißen Socken passend zum roten Kostüm verfärbten. Nein, Santa gibt nie auf, so viel war klar.
Kaum stand er nahe genug am ersten Gauner, der dabei war die Kasse des Buchladens auszuräumen, griff er nach einem der großen, trockenen Zimtsterne, der in der Auslage eines Standes lag und wog den improvisierten Shuriken in der Hand. Mit einer fließenden Bewegung, die dem alten Mann niemand zugetraut hätte, warf er den Ninja-Stern so, dass er den Gangster am Kopf traf und dieser auf dem Tresen zusammenbrach. „Du warst nur der falsche Typ am falschen Ort zur falschen Zeit“, brummte der Nikolaus und robbte über den glatten Boden weiter, eine Blutspur hinterlassend. Die beiden Kumpane hatten nichts mitbekommen – der eine machte sich über die Diamanten im Juweliergeschäft her. Rasch kroch Santa hinter einen Glühweinstand. Dieser Kerl erinnerte ihn an den Grinch, weil er hämisch grinste. „Jetzt wirst du dein blaues Wunder erleben“, grummelte er, als er sich einen Becher kochend heißen Glühwein schöpfte. Ohne zu zögern warf er das Getränk auf den nahen Gangster, der sofort schreiend im Kreis zu rennen begann, was Santa genug Zeit gab, sich zu erheben, zu dem Unhold zu gelangen und ihn mit einem rechten Haken niederzuschlagen.
Dank dem Tumult war jedoch der Dritte im Bunde auf ihn aufmerksam geworden. Wieder konnte der Weihnachtsmann das Mündungsfeuer der Automatikwaffe sehen und warf sich gerade noch rechtzeitig auf den Boden hinter einem Plätzchenstand, bevor Kugeln die Wand hinter ihm durchsiebten. „Andauernd will irgendeiner die Festtage ruinieren“, nörgelte er. Das Tack-Tack-Tack der Maschinenpistole verstummte, er konnte hören, wie die Waffe auf den Boden geworfen wurde und sich hastige Schritte entfernten, offenbar hatte der Gauner keine Munition mehr. Rasch griff sich der alte Haudegen eine Lichterkette von der Auslage eines Geschäfts und nahm die Verfolgung auf – wenn jemand Weihnachten kaputtmachen wollte, sah er rot!
Die wahnsinnige Jagd führte im Zickzack um die Stände ins Treppenhaus zum Dach. Beim Erklimmen der Stufen musste Santa einige Male den Asthma-Inhalator benutzen, aber er gab nicht auf und gelangte kurz nach dem Verbrecher auf dem Flachdach. Über ihm war das Knattern von Rotorenblättern zu hören und das Flackern von unzähligen Blaulichtern auf dem Parkplatz ließ den Nebel stroboskopartig aufblitzen.
Atemlos blieb der Nikolaus stehen, was seinem Gegenspieler die Gelegenheit gab, auf die er gewartet hatte: Der muskulöse Kerl packte den Weihnachtsmann und boxte ihm mehrfach ins Gesicht. Santa ließ sich abrollen, dabei riss er den wesentlich leichteren Kontrahenten mit um, der ihm nun das Knie in den glücklicherweise exzellent gepolsterten Bauch rammte. Rasch erhob er sich, brachte etwas Distanz zwischen sich und den Ganoven, dann rupfte er die Packung auf und zog die Lichterkette heraus. Der Gangster verharrte nur wenige Meter vor ihm und rief: „Wenn ich schon in den Knast gehe, dann rechne ich wenigstens vorher mit dem Kerl ab, der daran schuld ist!“
Santa sparte sich einen dramatischen Spruch, holte mit der Lichterkette aus und peitschte den Verbrecher, der daraufhin rückwärts stolperte und sehr zum Entsetzen des Weihnachtsmanns über die Dachkante stürzte. Zum Rand hechtend konnte er erkennen, dass der Unhold auf den großen Tannenbaum gestürzt war, sich mit dem Bein in einer Girlande verfangen hatte und in einem Regen aus Lametta schimpfend und fluchend kopfüber hing. Weihnachten war gerettet und Santa hatte dafür nicht einmal jemanden töten müssen, nicht so wie damals bei der Sache mit dem Grinch.
Epilog: Frohe Feiertage, Grund zur Klage!
„Mami, wieso schaut Santa wie ein Skinhead aus?“, wollte das kleine Mädchen wissen, das unruhig auf dem Schoß des alten Mannes saß und die Mutter hilfesuchend anstarrte. Sie lächelte ihm zu und erklärte sofort: „Weil er ein Held ist und die bösen Räuber besiegt hat. Darum hat Santa seinen Bart verloren und ohne Bart sieht er nun mal komisch aus.“
Das kleine Mädchen überlegte kurz, dann erkundigte es sich: „Aber Santa, wieso bringt dir denn der Bartgeier nicht einfach einen neuen? Liefert der in der Adventszeit nicht? Der Storch hat mein Brüderchen ohne herumzujammern an Heiligabend gebracht und Mr. Gruber von ‚Al’s Dente‘ bringt die Pizza auch an Feiertagen vorbei.“
„Klingt das in den Weihnachtsliedern so, als ob ich nen Bart wie ne Pizza bestelle?“, hätte er am liebsten gewettert, konnte sich den Kommentar allerdings gerade noch so verkneifen. Santa seufzte, fasste sich an den Kopf und fragte sich, ob er zu alt für den Job wurde. Irgendwann die Tage würde er noch an einer Überdosis Eierpunsch sterben, wenn das so weiterging!