Es war so frühlingshaft, wie ein Frühling nur sein konnte, als Thomas Ehrlichmann seine übliche Runde machte. Im Park drängten sich die Krokusse so dicht wie Konzertbesucher, die alle ihren Star hautnah erleben wollten. Ehrlichmann sog die honigduftgeschwängerte Luft ein. Vielleicht war er ja dieser Star, den die kleinen Frühlingsblüher anhimmelten. Unweigerlich musste er kichern. Das entsprach weder seinem Naturell, noch seinem Alter. Abrupt blieb er stehen, zog den Gürtel seines beigefarbenen Trenchcoats enger, klemmte sich die braune Ledertasche wieder unter den Arm und lief zielstrebig auf die Moritzstraße zu.
Eine Amsel stob schimpfend aus einem noch kahlen Gebüsch. Über dem lichten Haar von Ehrlichmann zwitscherten Meisen und Rotkehlchen gegeneinander an. Das laue Frühlingslüftchen wich jäh dem beißenden Geruch von Teer und Abgasen. Hupend und schimpfend quälten sich die Verkehrsteilnehmer durch die Dauerbaustelle.
Wie gut, dass ich immer laufe, dachte Ehrlichmann, rückte die schmale Brille wieder auf den Nasenrücken, schaute rechts, schaute links und überquerte das Chaos in Richtung Lederwarengeschäft.
Ein gezielter Griff in die vordere rechte Kammer seiner Tasche förderte einen Schüssel zu Tage. Kaum hatte er die Ladentür geöffnet, wehte ihm dieses angenehm vertraute Aroma entgegen. Die Geruchsmoleküle, die das Leben des Thomas Ehrlichmann ausmachten. Lederwaren Ehrlichmann. So stand es in großen Lettern an der Fassade. Zwischen all den modernen Glasbauten wirkte das Geschäft wie aus dem 19. Jahrhundert und in der Tat hatten weder Ehrlichmanns Vater, Dietrich Ehrlichmann, noch er selbst viel verändert. Nur das Nötigste und die Dinge, welche die Behörden vorgeschrieben hatten. Im Kern war es jedoch noch immer der Laden, den sein Großvater, Berthold Ehrlichmann, seinerzeit eröffnet hatte und genau das schätzten die Kunden. Wenn sie durch die alte Holztür traten, erfuhren sie sofort eine Art der Entschleunigung, die ihnen sonst in der Hektik der Großstadt verwehrt blieb.
Zugegeben, es waren weniger Kunden geworden. Die Konkurrenz wurde größer. Neumodischer Kram, wie das Internet, machte den traditionellen Händlern schwer zu schaffen.
Ehrlichmann stierte in den menschenleeren Verkaufsraum. Er seufzte, begab sich in das kleine Kämmerchen hinter dem Tresen und hängte seinen Trenchcoat ordentlich an den Wandhaken.
„Aber ihr bleibt mir treu …“ Ehrlichmann kippte ein wenig Fischfutter in das Aquarium, in dem nur zwei Arten lebten. Drei mehr oder weniger gesund aussehende Guppys und ein paar halbtransparente Garnelen.
Wie jeden Tag stellte er den Wasserkocher an, um sich einen Tee aufzugießen. Dieses Gerät war das höchste der Gefühle, wenn es um Modernität ging. Ehrlichmann musste sich eingestehen, dass es einige Errungenschaften gab, die das Leben ungemein erleichterten.
Pfefferminz oder Hagebutte? Die schwierigste Entscheidung, die jeden Vormittag zu treffen war.
Ein leises Glöckchen kündigte an, dass jemand das Geschäft betreten hatte.
Um diese Zeit schon? Ehrlichmann sah skeptisch auf die Kuckucksuhr. War sie stehengeblieben?
Hastig goss er seinen Tee auf – Pfefferminze – und begab sich in den Verkaufsraum.
Er glitt raschelnd durch den Perlenvorhang, sah sich um und wäre beinahe wieder in sein Kämmerchen zurückgestolpert. Lediglich der Lichtkranz und der Klang eines Kirchenchors fehlten, denn die Kundin, die sich suchend im Kreis drehte, musste ein Engel sein.
So schnell dieser Emotionsschlag gekommen war, so schnell erlosch er auch wieder. Ehrlichmann ging auf die Sechzig zu, diese Frau war allerhöchstens Mitte Zwanzig. Er resignierte innerlich, besann sich dann allerdings sehr schnell auf seine eigentliche Aufgabe. Tief luftholend ging er auf sie zu.
„Entschuldigen Sie bitte, Gnädigste.“ Innerlich versetzte er sich die erste Ohrfeige. Gnädigste? Kannte diese blutjunge Schönheit solch einen Begriff überhaupt noch? Fehlte nur noch, dass er sie mit Fräulein ansprach.
Die junge Frau schien es überhört zu haben oder es war ihr schlichtweg egal. Mit einem Lächeln, das all den Mief aus dem stickigen Laden pusten könnte, drehte sie sich zu Ehrlichmann.
„Wissen Sie, ich suche so eine … na, so ’ne Dings. Na jedenfalls für meinen Vater. So in Braun oder Beige. Nee, doch braun. Rotbraun am besten. Ich glaube, das heißt Kastanie. Kann das sein?“
Ihre ungezwungene, frische Stimmlage rieselte wie goldgelber Honigtau auf Ehrlichmann herab, hüllte ihn vollständig ein und lies ihn ratlos zurück.
„Oh, entschuldigen Sie. Marie.“ Mit diesen Worten streckte sie ihm die Hand entgegen.
Die grazilen Finger mit den gepflegten, aber natürlichen Fingernägeln trafen auf die verschwitzten, zitternden Wurststumpen, die nun lieber den Griff einer Aktentasche umklammert hätten.
Ein fremdes und sonderbares Gefühl durchzuckte Ehrlichmann. Seine gesamte Tagesroutine wurde aus der Bahn geworfen.
„Ehrlichmann“, stammelte er schließlich, nachdem er wieder zu sich gefunden hatte.
„Ach … dann sind Sie der Ladenbesitzer?“
Er nickte kurz, während er unbewusst seine gespreizten Finger am Pullunder trocken rieb.
„Na, dann bin ich ja genau an den Richtigen geraten.“ Ein Lachen, dass einem Kinderniesen glich, verließ Maries Lippen. „Wie gesagt: Für meinen Vater, er wird sechzig“, sie zwinkerte demonstrativ mit einem Auge, „suche ich so eine Herren-Ledertasche. Kastanienfarben, wenn sie so etwas … hier steht ja so viel Auswahl und alles so authentisch. Doch, wirklich, ich mag ihren Laden.“
„Äh … danke“, war alles, was Ehrlichmann erwidern konnte. Er hob den Zeigefinger als Zeichen, dass es nur einen kleinen Moment dauern würde.
Bevor er sich auf die Suche nach dem passenden Modell für Maries Vater machte, hielt er noch einmal inne. Wo sind nur meine guten Manieren, dachte er und drehte sich noch einmal zu der Engelsgestalt um. „Möchten Sie, während ich nach der Tasche suche, einen Tee trinken?“
„Tee? Wie niedlich. Ich wette, Sie haben Hagebuttentee.“
Die Betörung Ehrlichmanns war selbst von draußen, durch das trübe Schaufenster zu erkennen.
„Selbstverständlich. Ich bin gleich wieder da.“
Zurück in seinem privaten Kämmerlein, atmete er angestrengt aus, als hätte er zwei Minuten die Luft angehalten. Der Wasserkocher war leer, da er schon seinen eigenen Tee zubereitet hatte.
Mit zittrigen Fingern schraubte er am Wasserhahn und es geschah … nichts. Es kam einfach kein Wasser. Das durfte doch nicht wahr sein. Da stand diese bezaubernde Person in seinem Geschäft, wollte von ihm einen Hagebuttentee und es gab kein fließendes Wasser.
„Ganz ruhig, Thomas“, besänftigte er sich selbst und blickte sich nach einer Alternativlösung um.
Das Aquarium! Oder? Im Prinzip war es gefiltertes Süßwasser. Außerdem würde er es abkochen. Das sollte sie ohnehin nicht merken und er war ihr einen Hagebuttentee schuldig.
Mit einem dumpfen Glucksen wurde das Aquariumswasser in den Kocher gesogen, als er ihn eintauchte.
Kurze Zeit später stand Ehrlichmann mit einem unsicher verkrampften Lächeln wieder hinter dem Tresen. Er stellte die weiß-blaue Teetasse auf der Glasplatte ab und legte die von Marie gewünschte Ledertasche daneben.
„Sie sind ein Goldschatz“, rief Marie euphorisch und schwebte auf die Theke zu. „Genau das, was ich mir vorgestellt habe und einen Tee gibt’s auch noch dazu. Dass ich nicht schon früher in ihren Laden gekommen bin, tut mir schon fast leid, Herr Ehrlichmann. Sie machen ihrem Namen alle Ehre.“ Mit diesen Worten endete sie ihre Lobeshymne und nahm einen kräftigen Schluck aus der Tasse.
Verwundert setzte Marie das Gefäß wieder ab. Ihr ebenes Gesicht verzog sich zu einer angewiderten Grimasse. Eilig zog sie etwas rötlich Glibberiges aus ihrem Mund. In ihrem Blick spiegelte sich Panik wider.
„Ist das …?“ Sie hustete. „… ein Krustentier?“
Ehrlichmann wusste nicht, wie er reagieren sollte. Weshalb wollte sie das wissen? War das wichtig? Würde seine etwas eklige Improvisation auffliegen und was würde sie dann von ihm halten?
Marie griff sich an den Hals, ihr Gesicht lief rot an. „Arzt!“, krächzte sie.
Oh nein. Sie reagierte allergisch auf Krustentiere. Das hatte Ehrlichmann nicht gewusst und noch weniger gewollt. Mit einem Satz verschwand er in seiner Kammer, nahm den Hörer in die Hand und drehte an der Wählscheibe die Eins, die Eins und schließlich die Zwei.
Nachdem der Notruf abgesetzt war, hastete er durch die Perlen nach vorne. Angestrengt versuchte sich Ehrlichmann an seinen Jahre zurückliegenden Erste-Hilfe-Kurs zu erinnern.
Mund-zu-Mund-Beatmung. Dieser Begriff verdrängte alle anderen Gedanken.
Das kannst du doch nicht tun, dachte er und sah sich schon als alten, notgeilen Sack abgestempelt. Anderseits konnte er Marie auch nicht einfach ersticken lassen.
„Was soll’s …“ Beherzt schob Ehrlichmann alle Zweifel beiseite, kniete sich neben das vollendete Antlitz seiner Kundin und … nein, er konnte es nicht.
Von weiter Ferne ertönte das Martinshorn. Langsam aber stetig wurde es lauter, bis die Türglocke schließlich Rettung verkündete.
Überall auf dem grau melierten Linoleumboden lagen weinrote Rosenblätter. Ehrlichmann tigerte aufgeregt vor der Zimmertür auf und ab. „Mach ich’s, oder …?“ Er hatte die Frage schon unzählige Male wiederholt.
Tief einatmend stellte er sich frontal vor die Tür, zögerte noch immer und … Mit einem Ruck flog sie auf. Eine burschikose Schwester stürmte heraus. „Sie können jetzt rein“, rief sie im Vorbeigehen.
Schon wollte Ehrlichmann die Flucht ergreifen, als er erneut entwaffnet wurde. Mit einem müden, aber gütigen Lächeln blickte ihn Marie aus dem Krankenbett heraus an. Ihre Wimperntusche war verlaufen, doch das tat ihrer Erscheinung kaum Abbruch. Es blieb ihm keine Wahl.
Verlegen betrat er das Zimmer, hielt den zerflederten Rosenstrauß unbedarft vor ihr hübsches Näschen und entschuldigte sich lang und breit.
„Sie müssen sich nicht entschuldigen.“
„Doch, das muss ich. Ich habe Sie fast umgebracht und dann sogar bei der ersten Hilfe versagt.“
„Ach was. Sie haben den Notarzt gerufen und mir damit das Leben gerettet.“
„Nachdem ich es aufs Spiel gesetzt habe.“
Marie lächelte noch immer und winkte ab.
„Oh …“, sagte Ehrlichmann, als hätte er etwas Wichtiges vergessen. Unter seinem Trenchcoat holte er die kastanienbraune Ledertasche hervor. „Ein Geschenk des Hauses. Als Wiedergutmachung.“
„Das kann ich nicht annehmen.“
„Das müssen Sie. Ich bestehe darauf.“
Stille hielt Einzug. Lediglich eine Stadttaube scharrte mit ihren Krallen auf dem blechernen Fensterbrett und lugte ins Krankenhauszimmer.
„Mein Vater wird sich sehr darüber freuen. Was halten Sie davon, wenn Sie auch zu seinem Geburtstag kommen? Ich mache Ihnen auch einen Hagebuttentee. Krustentierfrei …“
Zum ersten Mal seit langer Zeit lachte Thomas Ehrlichmann aus vollem Herzen.