Da lieg ich im Gras und betrachte das Geschehen. Nichts geschieht. Ich schließe meine Augen, um kurz darauf zusammenzuzucken. Rücksichtslos zeigen mir meine Gedanken auf, wofür ich hergekommen bin. Nicht etwa, um faul herumzuliegen und dem Nichts zuzusehen oder meinen sich heute ereignenden Geburtstag mit Freunden zu feiern. Ich muss arbeiten. Ich lehne mich nach hinten und greife in meine Ledertasche, um den Laptop herauszuziehen. Da fällt das Tiramisu in meinen Blickwinkel. Ich hatte es in einem kleinen Tupperware-Behälter, kurz vor dem Ausbruch aus meiner Einzimmerwohnung, in die Tasche gestopft. Obwohl das Ablaufdatum des Mascarpones bereits eine Weile her war, wollte ich mir eine Kleinigkeit zum Geburtstag gönnen und bastelte mir kurzerhand, mit den Zutaten, welche ich in meiner bescheidenen Küche fand, ein Kaffeetiramisu. Wenigstens etwas Schmackhaftes zu essen, wenn ich schon allein sein würde, dachte ich mir. Aber zuerst kommt die Arbeit, dann das Vergnügen. Zuerst kommt allerdings auch das Fressen, erst dann die Moral. Ich muss schmunzeln.
„Los jetzt“, sag ich mir laut. Ich setze mich hin und nehme das Gerät auf die Beine. Die Korrektur meines vielseitigen Textes muss ich dem Verlag Ende Monat auf den Tisch legen. Ich muss mich beeilen, um in dieser Zeit das Bestmögliche aus der durchaus hübschen Geschichte herauszuholen. In der momentanen, lausigen Version würde sie wohl nicht einmal in einer Kneipe, wo ich meine Produkte zu Beginn meiner Karriere jeweils zu verbreiten versuchte, aufgelegt. Ich lese einige Sätze und runzle die Stirn. Die Wörter scheinen wirr aneinander gereiht, ich versuche einen denkbaren Sinn zu erahnen. In welchem Befinden hatte ich diese Passage nur geschrieben? Ich überspringe den Abschnitt und lese auf der nächsten Seite weiter. Schon besser. Diesen Teil habe ich in einem vollkommen schreibfähigen Zustand geschrieben. Ich ersetze Wörter, schiebe Kommas umher, räume um. Ich erfreue mich am Geschriebenen, an meinem Geschriebenen. Manchmal beweise ich mir, es doch noch draufzuhaben. Ich lächle zufrieden.
Es fällt mir schwer, in meiner Arbeit als freischaffender Autor zurechtzukommen. Und trotzdem erachte ich es als das einzige, was ich kann – wenn bedauerlicherweise auch nicht in jedem Zustand. Ich muss mich in einer gewissen Verfassung befinden, um meine schreiberische Leistung abrufen zu können. Es gibt Momente, in welchen ich kaum etwas aufs Blatt bekomme. Ein anderes Mal fließen die Worte, Silben, Sätze und Geschichten, die Gefühle, Erinnerungen und die ganze Magie landet mit einem perfekten Kunststück auf dem Bildschirm. Die mühsame Beschäftigung, die Misserfolge, die unsichere Einkommenssicherung, der Druck durch den Verlag und die schwerfällige Kommunikation mit allen Beteiligten kann ich für einen Moment vergessen. Der Anmut meiner Bemühung wird dabei für einen kleinen Augenblick spürbar.
Ich durchforste Seite um Seite. Die einen sind schlechter, langweiliger, umständlicher, befangener und schwerfälliger geschrieben als die anderen. Oft erkenne ich, wie ich mich während des Verfassungsprozesses gefühlt habe. Während dieses Überarbeitungsprozesses durchlaufe ich meine Seelenzustände ein zweites Mal. Ich räume mehr als nur um, ich räume irgendwie – einen Teil meines Lebens – auch auf. Ob andere Menschen meine Geschichte darin ebenfalls erkennen könnten? Bis erste Fremdleser das Endprodukt zu Gesicht bekommen, sind die einzelnen Ausschnitte hoffentlich als ein Großes zusammengekommen, welches die Geschichte der jungen Frau, anstelle derjenigen von mir, passend umschließt.
Nach zwei Stunden fleißiger Betätigung am Text und der Reflexion meiner leidenschaftlichen Gefühlausbrüche bin ich entkräftet und gönne mir eine Pause. Ich erhebe mich und schlendere zum Brunnen, aus welchem nur wenige Meter von mir entfernt Wasser sprudelt. Das Wasser tut gut. Ich seufze. Zurück im Gras gestatte ich mir, den Behälter mit meinem feierlichen Dessert zu öffnen. Ich gebe zu, dasjenige meiner Mutter hatte jeweils um einiges besser ausgesehen. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich nur noch vage an die benötigten Zutaten erinnern konnte. Verdammt! Hierfür hätte ich von meiner Mutter einen strengen Blick zugeworfen bekommen und von meinem Vater, wäre er zufällig zuhause gewesen, körperliche Sanktionen verdient, wie er nach der Maßnahme mit Sicherheit klargestellt hätte. Meine Mutter wäre weinend aus dem Zimmer gelaufen und hätte sich später nichts anmerken lassen. „Verdammt!“ Ein zweites Mal entwischt das unschöne Wort meinem Maul. Ich habe den Löffel vergessen.
Er liegt auf dem Teppich im Korridor, wo ich ihn nach dem Binden meiner Schuhe liegengelassen habe. Wie soll ich das Tiramisu nun essen? Ich schaue mich um. Ich suche mehr als Holz und Blätter. Diese starren Lebendigkeiten erachte ich keineswegs als das geeignetste, um meine Essschaufel zu ersetzen. In meiner Tasche gibt es ebenso wenig zu erbeuten. Ein Schlüsselbund, ein Taschentuch, ein Block, zwei Stifte … Zwei Stifte! Die müssens nun eben tun. Ich versuche beschwerlich etwas Tiramisu auf die Schreibgeräte zu erlangen. Zum einen ist das Tiramisu in seiner Konsistenz weniger fest, als es das zu sein hätte, zum anderen ist die Funktionsfähigkeit als Kritzler wohl nicht direkt auf diejenige als Essensreicher zu übertragen, wie ich merken muss. In einem schnellen Akt des Aufgabelns-und-zu-meinem-Mund-führens erhasche ich eine ultrakleine Portion – hoppla! Total ungenießbar schmeckt dieser klitzekleine Happen auf meiner Zunge. Ich schlucke ihn und spüle meinen Mund eilig mit Wasser. Das wars wohl mit dem Festmahl. Vergeblich will ich mich an etwas erinnern, das keine Bedeutung mehr hat. Nichts lässt meinen runden Geburtstag erahnen. Wahrscheinlich weiß von den Menschen, die mich ab und an umgeben, niemand, dass ich heute vor dreißig Jahren die Welt erblickt habe. Da fliegt ein Vögelchen auf die Waldlichtung zu und landet direkt neben dem Tupperware-Geschirr mit dem ekligen Futter drin. Das bunte Tier scheint es zu mögen. Wenigstens jemand, der sich daran erfreut. Erst jetzt erblicke ich das Geschenkband, welches um seinen Fuß gebunden ist. Ich lächle. Vielleicht hat doch noch jemand an mich gedacht.