Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Sie sprach so schnell, dass es mir schwer fiel, ihr richtig folgen zu können und für einen kurzen Augenblick hatte mich ihr dringlicher Tonfall davon überzeugt gehabt, dass das was sie mir erzählte, tatsächlich wichtig war. Natürlich war dem nicht so, nichts was sie zu solch fulminanten Redeschwallen bewog, war jemals von Bedeutung gewesen, nichtsdestotrotz hörte ich ihr immer unheimlich gerne zu. Es war, als würde sie mich mit Nichtigkeit verzaubern, als könnte sie mich durch den reichhaltigen Klang ihrer Stimme in eine Welt entführen, die mir sonst verschlossen blieb, an einen Ort, der fernab jeglicher Sorgen ein Leben versprach, das vielleicht irgendwann das meine sein könnte.
Sorgfältig zupfte sie die letzte Garnele aus ihrem Eintopf und legte sie neben die anderen auf die Serviette. Sie hatte Meeresfrüchte noch nie gemocht, doch schien sie von ihnen fasziniert und bestellte sie lediglich deshalb, weil sie, wie sie sagte, so hübsch grotesk aussahen. Der Gedanke, dass man Essen nicht wegwerfen sollte, wäre ihr nie eingefallen, wieso auch, ihr war das Konzept von Hunger so fremd wie die Tiefen, aus denen die Garnelen kamen. Ich lächelte gleichmütig und legte meinen Holzlöffel beiseite, währendem sich ihre eilig gesprochenen Worte mit dem Hintergrundlärm vermischten und die schwüle Hitze meinen, von den Strapazen des Tages müden, Körper in einen oberflächlichen Schlaf wiegte.
„Jay“, vernahm ich ihr Flüstern und ich hob mein Haupt, um ihren durchdringenden Blick aufzusaugen. „Ja, Liebes?“, fragte ich und hielt ihre zierliche Hand, die ruhend auf dem kleinen Tischchen lag. „Hörst du mir überhaupt zu?“ Ich mochte es, wenn sich ihre Oberlippe verärgert kräuselte, so sehr sogar, dass ich manchmal nicht umhin konnte, sie zu necken und so gelang es mir nicht, mich für meine Unaufmerksamkeit schuldig zu fühlen. Ich nickte, merkte jedoch beiläufig an: „Ach Liebes, die beschwerliche Anreise steckt mir noch in den Knochen, sei nicht böse.“ Sie lachte laut und hell, so wie sie das immer tat, wenn sie sich über meine Schwächen lustig machte und es wollte mir immer seltener gelingen , ihren Schabernack von Ernsthaftigkeit zu unterscheiden. Dennoch lachte ich mit und gönnte ihr den Spaß, denn ich hätte ihr ohnehin nie etwas verweigern können.
„Da siehst du“, begann sie, bevor sie ihre Finger unter den meinen wegzog, „wohin dich die Alkoholabstinenz gebracht hat, sie lässt dich vor deiner Zeit altern.“ Sie hob ihr Glas zum Toast und währendem sie es an ihre Lippen führte, fing der grüne Stein in ihrem Ring ein Licht unbekannter Quelle ein und blitzte auf, wie ein Leuchtturm, der Glück am Ufer verheißt. „Ich mag meine Sinne ungetrübt, damit ich meine Ziele stets klar vor Augen habe“, versuchte ich zu erklären, doch ich wusste um die Unsinnigkeit dieses Unterfangens, war es ihr doch vergönnt, sich nicht mit solch gewöhnlichen Sorgen plagen zu müssen.
Ein Knall ließ uns beide gleichermaßen erbeben, als der Koch der Garküche hinter seiner kurzen Theke einen gusseisernen Topf fallen ließ und da fiel mir zum ersten Mal auf, dass unser Dinnerarrangement wohl in keiner Weise ihren gewohnten Standards entsprach, hatte ich mich in der Hektik meinen eigenen Gewohnheiten entsprechend für das schäbige Lokal am Straßenrand entschieden. „Möchtest du irgendwo anders hingehen, Liebes?“, erkundigte ich mich eilig und hoffte, sie würde mir meine leichtsinnige Wahl nicht nachtragen. Sie schüttelte den Kopf, strich sich eine Locke hinters Ohr und kicherte ausgelassen: „Ach, wieso denn? Ich will mit den Einheimischen essen, das ist so herrlich abenteuerlich.“
„Abenteuerlich“, wiederholte ich nachdenklich und fragte mich zum ersten Mal, ob sie sich wohl irgendwann einmal vorgestellt hatte, wie die Abenteuer meiner mühseligen Vergangenheit ausgesehen hatten. Sie hatte nie Interesse daran gezeigt und ihre gelegentlichen Fragen zum Krieg dienten für sie alleinig der Unterhaltung, so als wären die Grausamkeiten nichts weiter als Gesprächsstoff für gesellige Abende unter Fremden. Ebenso oberflächlich schien ihre Neugier bezüglich meiner Herkunft oder meiner Tätigkeit, so als wäre ihr Interesse an mir lediglich ein schöner Schein. Erschrocken über den unverhofften Gedanken wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und knetete kräftig meine Nasenwurzel. Wieso bloß musste ich gerade jetzt damit beginnen, ihre Reinheit in Frage zu stellen, jetzt da ich sie endlich für mich gewonnen hatte? Ich konnte nicht zulassen, dass all meine Bemühungen in Zweifel versanken, also schüttelte ich sie entschlossen ab und konzentrierte mich nur noch auf ihr wunderschönes Gesicht.
„Lass uns den Fahrer rufen“, schlug sie vor, nachdem sie ihre Garnelen mit einer weiteren Serviette zugedeckt hatte und sie achtlos wegschob, so als hätte sie sich an einem Kunstwerk sattgesehen. „Oder möchtest du selbst den Fuß auf das Gaspedal legen?“ Ich fühlte wie eine Zorneswelle in mir anwuchs und nur langsam vorüberrollte, als ich in ihrer Stimme dieselbe Melodie erkannte, mit der sie seinerzeit Thomas hatte gefallen wollen. Ich wusste, dass es nicht ihre Absicht war, mich mit diesem Ganoven gleichzustellen, dennoch verabscheute ich diese Momente, in denen ich die Erinnerung an ihn in ihren Gesten erkannte. „Nein“, sagte ich schließlich niedergeschlagen, ohne zu bedenken, dass sie meine getrübte Stimmung bemerken könnte, bis jetzt hatte sie mir auch noch nie Anlass dazu gegeben, mir deshalb Sorgen machen zu müssen. „Lass uns noch eine Weile bleiben“, schlug ich mit einem erzwungenen Lächeln vor, doch ihr unruhiger Gesichtsausdruck verriet mir, dass es sie nicht mehr lange hier halten würde, zu sehr lechzte es sie nach neuen Erlebnissen. „Ach Jay, wollen wir nicht tanzen gehen?“
Ein Einheimischer setzte sich an den Tisch neben uns und beäugte meine Daisy mit wachsamem Blick, dem ich nicht entnehmen konnte, ob er von Misstrauen oder Neugier getrieben wurde. Dann sah er mich an, so als würde er einen Sack Getreide oder Grassamen mustern um dessen Wert zu schätzen und ich ertappte mich dabei, in meine übliche Rolle zu verfallen, die ich über all die Jahre einstudiert hatte. Ohne darüber nachzudenken, streckte ich meinen Rücken gerade und hob mein Kinn in einer Manier, die nur durch die Selbstverständlichkeit des alten Geldes zustande kommen sollte, doch ich hatte gelernt, sie bis ins kleinste Detail perfekt zu imitieren. Er schnaubte und verzog die Oberlippe, als er das liegengelassene Essen sah und die Scham, die ich anstelle meiner Liebsten verspürte, bewegte mich dazu, ihm verächtlich und herablassend zuzunicken.
„Lass uns morgen tanzen gehen, Liebes“, sagte ich, nachdem ich ihre Hand wieder in die meine geschlossen hatte und mit meinem Daumen über den grün leuchtenden Stein ihres Rings strich. „Gönne deinem Mann etwas Ruhe und Erholung.“ Ruckartig zog sie ihren Arm zurück und versteckte ihre blasse Hand im Schoß ihres seidenen Kleides. Ich hatte nicht damit gerechnet und starrte sie wohl entsetzt an, so dass sie ihre Lider senkte, um mir nicht ins Gesicht sehen zu müssen, als sie so leise, das ich es kaum mehr vernehmen konnte, sagte: „Du bist nicht mein Mann, Jay.“ Ich schluckte leer und fühlte wie ich an der Realität zerschlug, wie Myrtle an meinem Wagen, doch ich sagte nichts und wartete geduldig auf meine Daisy, so wie ich das immer getan hatte. „Oh, Jay“, begann sie nach einer unendlich scheinenden Atempause und tastete nach meinen verkrampften Fingern, ehe sie fortfuhr: „Ich wünschte du hättest einfach die Schuld auf dich genommen, anstelle dessen bist du mit mir weggerannt wie ein Feigling.“
In meinem Geist sah ich die wilde Fahrt, die wir angetreten waren, ohne auch nur einmal zurückzublicken. Ich sah wie wir vorbei an Häusern, Grenzpfosten und Fabriken zum Hafen gerast waren, einer ungewissen Zukunft entgegen, die mich mit so viel Freude erfüllen würde, nur weil sie neben mir war. Ich hatte mein ganzes Leben für sie gelebt, hatte alles getan um ihr das Glück zu ermöglichen, dessen Sinnbild sie für mich geworden war. Doch ich hatte mich getäuscht und der grüne Schein ihrer Anmut war nichts weiter als die Reflektion meiner Wünsche, die ich all die Jahre in sie gelegt hatte, als wäre sie ein Gefäß. Vielleicht, so dachte ich mir, hatte ich es lange schon geahnt, dennoch war es unvorstellbar schmerzhaft mich von meiner Fantasie zu verabschieden, doch in diesem Moment war mir klar, dass es keinen anderen Weg mehr geben würde. Ohne ein Wort stand ich auf, legte meine Brieftasche vor den Einheimischen, der noch immer beobachtend neben uns saß, und ging.