Zwischen ihnen war viel geschehen, vielleicht zu viel. Bis vor dreizehn Monaten hatte sie im Stillen an ihrer Ehe gezweifelt, weder ihm noch ihrer besten Freundin davon erzählt. Irgendwann war es schließlich passiert, sie hatte ihre Sachen gepackt und war mit dem Kleinen gegangen. Ihr Entschluss war keineswegs über Nacht gekommen, jedoch in einer einzigen gefällt worden. Sie beide hatten es kommen gesehen, das Gezanke war schon vor Jahren unerträglich geworden, dennoch hatten sie aneinander, an der Traumvorstellung ihrer perfekten Ehe, festgehalten. Sie war überzeugt, hätte nicht sie den ersten, beziehungsweise letzten Schritt gemacht, wäre er es gewesen. Eigentlich hätte das das Ende sein sollen, zumindest war das ihre Vorstellung gewesen, als sie die wenigen Zeilen geschrieben hatte, mit denen sie sich von ihm verabschieden wollte. „Wir sind zu meinem Vater gezogen. Bitte ruf‘ nicht an, Papa bringt dir den Kleinen am Samstag. Ich wünschte, alles wäre anders, aber ich kann so nicht weitermachen.“
Darauf folgten einige Wochen komplette Funkstille, anschließend seine Bitte, mit ihr in die Paartherapie zu gehen. Zuerst hatte sie gezögert, sich danach von ihrer Freundin dazu überreden lassen. „Er gibt sich wirklich Mühe“, hatte sie zu bedenken gegeben, „Er hat eine Chance verdient und du auch.“ Deswegen hatte sie jeden Mittwoch mit ihm in einem Therapiezimmer gesessen und sich von einer alleinstehenden Psychiaterin erklären lassen, wie das mit der Ehe laufen müsse. Bis heute stand sie der Ärztin skeptisch, sogar ein wenig feindselig gegenüber, trotzdem hatte sie bei ihren Methoden mitgemacht, mehr aus Pflichtgefühlt, denn aus Überzeugung. Vor fünf Monaten war damit Schluss gewesen, erneut herrschte Funkstille.
„Sie dürfen hundertfünfzig Tage keinen Kontakt zueinander haben“, das sei von wesentlicher Bedeutung, hatte die Psycho-Tante nachdrücklich gesagt. „So können Sie beide in sich gehen und herausfinden, ob Sie diese Beziehung weiterführen möchten.“
Ein eiskalter Kloß formte sich in ihrer Magengrube. Mit klammen Fingern kramte sie ihr Handy aus der teuren Handtasche, die sie von ihm zu Weihnachten bekommen hatte und starrte auf das Display. Ihre Freundin hatte ihr einige Worte der Aufmunterung geschickt, die Arbeitskollegin über ein Meeting am Dienstag informiert, ansonsten war ihre Inbox leer.
„Was, wenn er nicht kommt?“, fragte sie niemanden außer sich selbst, es war alles, woran sie in den vergangenen Tagen denken konnte. „Was, wenn er nicht kommt?!“ Vehement den Kopf schüttelnd, richtete sie sich auf, entkrümmte ihre Haltung zu einer stolzen Pose. „Dann kommt er eben nicht. Punktum!“ Wahrscheinlich war es ohnehin ein Fehler gewesen, hierhinzukommen, besser wäre es, unter die Sache einen Schlussstrich zu ziehen. Dummerweise war sie die Tochter ihres Vaters, er hatte es damals ebenfalls nicht übers Herz gebracht, ihre Mutter zu verlassen. „Der Kinder wegen“, hatte er begründet und damit bewiesen, dass auch Gutgemeintes im Chaos enden kann.
Schon wieder fühlte sie den inneren Zwist aufflammen, es war die gleiche Empfindung, die sie in den Monaten vor der Trennung ums Schlafen gebracht hatte. „Nur eine Alterserscheinung“, hatte sie ihre Schlaflosigkeit anfänglich abgetan, bis sie die unbequemen Tatsachen akzeptieren musste.
Wut stieg in ihr hoch. „Selbst wenn er weg ist, treibt er mich in den Wahnsinn!“, murmelte sie gehässig. Ihr war unverständlich, wie es so weit hatte kommen können, wieso war neben der Liebe auch der Hass stetig gewachsen? Sollte die Liebe nicht grösser werden, je mehr Zeit man gemeinsam verbrachte? Sie hingegen hatten sich lediglich weiter voneinander entfernt, bis schlussendlich ein Mann in ihrem Bett lag, den sie nie und nimmer geheiratet hätte. Faul war er geworden, unaufmerksam und streitsüchtig. Nein, dazu hatte sie keine Lust!
Gerade als sie ihr Handy zurück in die Tasche steckte und diese schulterte, überkamen sie Angst und Reue. Welche von beiden Emotionen stärker war, blieb ihr schleierhaft. Je länger sie über eine endgültige Trennung nachdachte, desto weiter verschwanden seine Verfehlungen in den Hintergrund und desto deutlicher traten ihre eigenen hervor. Ständig hatte sie an ihm herumgenörgelt, nie seine Entschuldigungen angenommen, ganz gleich, wie ernst er sie gemeint hatte. Es war zu einfach, ihm den Schwarzen Peter zuzuschieben, das musste sie zugeben und Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Viel wichtiger noch, sie musste sich endlich klarwerden, was sie überhaupt wollte!
„Gehen oder bleiben?“, forderte sie von sich selbst zu erfahren. „Willst du gehen oder bleiben, verdammt nochmal?!“ Vor ihrem vereinbarten Treffpunkt, der Parkbank, auf der sie ihr erstes Date verbracht hatten, hin- und hergehend, erblickte sie die Kirchenuhr. Dreizehn Minuten, dann käme er, wenn er denn tatsächlich auf dem Weg war. Fünf Monate waren zu kurz gewesen, unmöglich, in einem Sommer eine so lebensverändernde Entscheidung treffen, wie also sollte sie das in weniger als einer Viertelstunde tun? Das war ausgeschlossen! Oder doch nicht? Immerhin war sie hier, das bedeutet etwas.
Sich die Haare raufend setzte sie sich wieder hin, umklammerte den Saum ihres Herbstmantels und entdeckte dabei die nackte Stelle, welche normalerweise von ihrem Ehering bedeckt wurde. Anstelle des goldenen Schmuckstücks zierte eine dünne, weiße Kerbe ihren Finger, ähnlich wie die Hautzeichnung von ihrem Bikini, bloß vom jahrelangen Tragen des Ringes eingedrückt. Sie hatte sich kaum Gedanken zu der Linie gemacht, weder als sie den Ring auf ihre Abschiedsnotiz gelegt, noch als sie im vergangenen Jahr ihr Leben gelebt hatte. Plötzlich kam ihr diese unscheinbare Furche schrecklich tief vor. Ihre Ehe hatte eine Kerbe in sie geschlagen. Und da dämmerte es ihr, was sie zu tun hatte, was sie unbedingt tun wollte.
„Er kommt“, flüsterte sie. „Er wird kommen.“ Die Erde schien gleichzeitig stillzustehen und zu rasen, jetzt, als ihr letztlich mit Sicherheit wusste, was sie wollte. „Er muss kommen!“