Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„… aber was will man, am Ende sind die Kleinen jedes Mal krank“, belauscht Cathy im Vorbeigehen und biegt bei einer Regalecke ab. Sogleich meint eine zweite Frau, die Cathy als Trudi erkennt, die am anderen Ende ihres Quartiers wohnt. „Och, da steckt man einfach ein Zäpfchen rein und gut ist.“
Bloß weg, bevor sie womöglich noch detailliert über die Körperfunktionen ihres Nachwuchses berichtet oder sie erspäht und in ein Gespräch verwickelt, denkt sich Cathy und huscht leicht geduckt einige Reihen weiter. Eigentlich hatte sie lediglich Zuflucht vor dem Wolkenbruch gesucht und war deshalb ins Lager vom Gemüsehändler eingestiegen. Der Laden ist keine Option gewesen, einerseits arbeitet Trudi da und andererseits muss Cathy zu sehr auf ihr Geld achten, um viel frisches Gemüse zu kaufen. Pflegebedürftige Eltern, ein schlechtes Sozialsystem und die Jobmöglichkeiten, die sich ihr bieten, sind keine gute Kombination für ihr Budget, geschweige denn ihre Nerven. Froh, vorerst außer Hörweite zu sein, kauert Cathy einigermaßen zufrieden hinter einem Stapel Kisten, auf dem „Bananen“ steht. Kurz wundert sie sich, weshalb der Gemüsehändler auch Obst verkauft, ehe sie augenrollend feststellt, dass das Duo sie eingeholt hat.
„… und stell dir vor, seit der Kleine sein Plastik-Windrad verloren hat, quengelt er andauernd. Wo kriegt man sowas her?“
Zu Cathys Freude schieben die beiden Trullas ihren Stapler weiter durch die Halle, statt in der Nähe zu quatschen. Sie setzt sie sich auf den Boden und lehnt sich gegen einen Metallträger. Trudi kann sie nicht ausstehen, ebenso wenig ihre vorlauten Sprösslinge, von denen sie immer erzählt. Cathy bevorzugt Katzen, die schlafen brav, schnurren und sind weich. Gut, auch die kotzen manchmal auf den Teppich, aber sie helfen Cathy, sich zumindest ab und an kurz von der dauernden Anspannung, die Teil ihres Alltags geworden ist, abzulenken.
Es müssen mehrere Minuten vergangen sein, da vernimmt Cathy Schritte. „Verdammt“, zischt sie und hofft, unentdeckt zu bleiben. Schlimmeres als eine Maßregelung ist zwar kaum zu erwarten, trotzdem versteckt sie sich hinter den Boxen – überreizt, wie sie ist, kann sie gerne darauf verzichten. Überraschenderweise ertönt nicht Trudis Gelaber über Rotz speiende Bälger, sondern verschiedene Männerstimmen, keine davon die des Gemüsehändlers. Sie hat ihn zudem nie Slang sprechen hören, ganz im Gegensatz zu diesen jungen Kerlen. Kurz linst sie über die Kartons und zieht anschließend verängstigt den Kopf zurück. Kein Zweifel, die Typen tragen Gangfarben! Was zum Teufel machen Gangster im Lager des Gemüsehändlers und dann erst noch so viele? Normalerweise hängen die bei den Projects ein paar Blocks weiter herum. Cathy tastet auf dem Regal hinter sich herum, bekommt einen Schraubenzieher zu fassen und greift ihn sich. Besser eine nutzlose Waffe, als gar keine. Dieser Regenguss beschert ihr nur Schwierigkeiten, regt sie sich auf. Zuerst die blöden Klatschtanten, die sich über ihre Kinder unterhalten und jetzt die Gang, der die Kinder wahrscheinlich in einigen Jahren beitreten.
„Hey, Jungs“, ruft Jack, der Gemüsehändler, durch den Raum und Cathys Anspannung steigt. Will der sich mit den Gangstern anlegen? Jack gilt als einer der wenigen anständigen Menschen im Quartier, integer und klug – sich mit ein paar Typen mit Uzis im Gürtel zu zoffen, wäre vielleicht integer, jedoch garantiert nicht klug.
„Was soll das?“, blafft Jack und Cathy hält die Luft an, rechnet damit, gleich einen Schuss zu hören. Anstelle davon antwortet einer der Gangster in bester Arschlecker-Manier: „Sorry, Boss. Hat länger gedauert.“
„Kein Grund, hier vorbeizukommen“, fährt Jack ihn an und tatsächlich fällt ein gedämpfter Schuss. Cathy legt sich flach auf den Boden und sieht zitternd unter der Palette hindurch den toten Gangster. „Schafft den raus und nochmal: Das ist meine Cover-Identität, ihr lasst euch kein zweites Mal im Laden blicken, klar?“
Während die anderen Kerle, die meisten davon gerademal um die zwanzig, die Leiche ihres Kameraden wegschleifen, malt sie sich aus, was auf sie zukommt. Wenn die sie finden, hätte ihre letzte Stunde geschlagen, vermutlich würden sie sie ohne zu zögern erschießen. Cathy erschaudert, kneift die Augen zusammen und zwingt sich zur Ruhe, nur so hat sie eine Chance zu überleben. Ob das besser ist, bleibt fraglich. Als Zeugin eines Mordes muss sie vor Gericht aussagen und käme in den Zeugenschutz – zumindest ist das ihn ihren Lieblingsserien so. Naja, immerhin müsste sie sich nie wieder mit Trudi unterhalten, eine traumhafte Vorstellung. Allerdings ist sie Unwillens, ihre pflegebedürftigen Eltern zu verlassen oder einen neuen Beruf zu lernen. Panisch jagen sich ihre Gedanken, sie will sich nur in Luft auflösen und …
Jack tritt zu den Kisten und unterbricht damit ihre Überlegungen. Schwer atmend wartet sie darauf, gesehen zu werden. Seine weißen Sneaker sind das einzige, das sie unter dem Regal beobachten kann, vermutlich das letzte, was sie sehen wird. Wenigstens scheint er Leute, die ihm nicht passen, schnell zu töten und nicht lange zu foltern, trotzdem – wer würde ihre Katzen füttern, sich um ihre Eltern kümmern …
Sehr zu ihrer Erleichterung legt Jack die Pistole mitsamt Schalldämpfer auf die Bananenkisten und wendet sich ab. Cathy starrt auf die Mordwaffe und plötzlich hat sie einen irrsinnigen Einfall, eine Idee, die all ihre Probleme lösen könnte, sei es ihr Überleben oder die Geldsorgen. Sie muss schnell entscheiden, immerhin kann Jack jederzeit wieder zurückkommen und die Gangster versperren ihren Ausweg.
„Was soll‘s“, zischt sie, packt die Waffe, steht auf, richtet den Lauf auf Jacks Hinterkopf und drückt zweimal ab. Kaum liegt der Gemüsehändler zwischen Lagerregalen und Kakerlakenscheiße, bellt Cathy die verdatterten Gangster an. „Jetzt mache ich hier die Regeln, klar?“