Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Ich blätterte eine Seite meines Botanik-Fachbuchs um, obwohl ich sie nicht richtig gelesen hatte, denn ich wollte nicht, dass Andrew mich schon wieder beim Tagträumen erwischte. Als wir vorgestern zusammen am Tisch gesessen waren, hatte ich mich dummerweise als Biologie-Banause geoutet. Mir war zwar nicht ganz klar, wie er mir auf die Schliche gekommen war, aber geendet hatte es damit, dass er mich erst lauthals ausgelacht hatte, weil ich nicht wusste, dass pflanzliche Eukaryoten eine Zellwand besitzen. Selbstverständlich konnte ich das nicht auf mir sitzen lassen, also hatte ich mir gleich heute früh eines seiner langweiligen Bücher geschnappt und es trotz seinen spöttischen Bemerkungen zusammen mit einer Tasse Fencheltee auf die Terrasse getragen. Ich saß noch immer da, beobachtete das gemächliche Treiben auf der Hanfplantage und verlor immer mehr das Interesse an den schematischen Darstellungen. Meine Aufmerksamkeit galt immer mehr dem blonden Mann, mit welchem ich seit Jahren zusammenarbeitete und über dessen Leben ich eigentlich noch immer kaum etwas wusste.
Die Idee, sich aus dem gutbürgerlichen Leben zu verabschieden und zum Kriminellen zu werden, mag vielen von uns schon mal durch den Kopf gegeistert sein, doch für die allermeisten von uns bleibt es bei diesem harmlosen Gedankenspiel. Jedoch nicht für Andrew, er hatte es wirklich getan und hatte unter all das, was in den dreißig Jahren zuvor zu seinem Leben geworden war, einen Schlussstrich gezogen.
Er hatte mir mal erzählt, dass alles angefangen hatte, als einer seiner damaligen Freunde, ein Apotheker, ihm erzählt hatte, wie einfach es doch wäre, die zurückgebrachten Medikamente illegal zu verkaufen. Das hatte ihn dermaßen fasziniert, dass er, wie er nun einmal war, damit begonnen hatte sich zu überlegen, wie man solche Transaktionen effizient und vor allem sicher gestalten könnte. Erst einmal, hatte er mir erklärt, müsste man herausfinden, welche Leute hinter der regionalen Distribution von illegalen Substanzen steckten. Das wäre im Prinzip ganz einfach, zumindest dann, wenn man genügend Sozialkompetenz besaß, auf einen befreundeten Polizisten rechtschaffen und vor allem sympathisch genug zu wirken, so dass dieser bei einem gemeinsamen Feierabendbier etwas aus dem Nähkästchen plauderte. Man konnte aber auch einfach die Zeitung studieren oder sich mit Junkies unterhalten, aber das war die langweilige, respektive mühselige Alternative und zudem verpasste man damit die Gelegenheit, vielleicht an Insiderinformationen zu gelangen.
Wenn man die Drahtzieher identifiziert hatte, brauchte man eigentlich nur noch zwei Dinge und eines davon war im Zeitalter von Facebook und GPS-Tracking nun wirklich eine Leichtigkeit. Man wollte es kaum glauben, aber selbst größere regionale Lieferanten halten es offenbar für notwendig, sich im Netz wie gewöhnliche Hipster mit ihrer Freundessammlung zu brüsten, womit man sie leichter aufspüren kann, als Omas Ostereier. Das andere hingegen verlangte einiges von einem ab, man kann sogar mit Fug und Recht behaupten, dass nur die wenigsten von uns überhaupt dazu in der Lage wären, das richtig hinzukriegen. Denn was man vor allem brauchte, wenn man sich vom aufsteigenden Bankier zum Drogen-Kingpin mausern wollte, war ein Set mächtiger Eier – so zumindest hatte Andrew mir das feixend erläutert.
Ich habe oft versucht, mir vorzustellen, wie es wohl gewesen sein mochte, als er an einem gewöhnlichen Sonntag an die Wohnungstür eines mittleren Angestellten des Kartells geklopft hatte. Bestimmt war er fürchterlich nervös gewesen, insbesondere deshalb, weil er das auf gar keinen Fall hatte durchschimmern lassen dürfen. Immerhin war er geradewegs in die Löwenhöhle spaziert, nur dass er sich weniger Sorgen wegen bissigen Katzen, sondern wegen halbautomatischen Handfeuerwaffen hatte machen müssen. Wenn ich es mir recht überlege, hätte er gerade so gut mit einem brennenden Streichholz zu einem Kerosintank rennen können und so wie ich ihn kenne, hätte er das vermutlich auch getan, wäre es nötig gewesen.
„Ey!“, schrie er mir über eine besonders große Hanfstaude zu und deutete mit einem breiten Grinsen auf seinen Hintern und danach auf mich, seine übliche Geste dafür, dass ich meinen faulen Arsch zu ihm bewegen soll. Gespielt genervt strecke ich ihm die Zunge raus, bevor ich das Buch auf die Armlehne lege und mich extra langsam aufrappelte und im Flaniertempo zu ihm ging.
„Was denn?“, wollte ich wissen und reichte ihm meinen Bastfächer, als ich die Schweißtropfen auf seiner Stirn entdeckte.
„Danke. Mann, eine Affenhitze hier!“ Ich schenkte ihm ein ernstgemeint mitleidiges Lächeln und merkte tröstend an, dass wir ohnehin in wenigen Tagen abfliegen würden und er mir bald wieder dabei würde zuhören können, wie ich mich über die Kälte beschwere. „Also, was ist denn nun?“, fragte ich ein zweites Mal und beobachtete dabei Juan, der gleichmütig Blüte um Blüte schnitt und sachte in seinen Weidenkorb legte.
„Siehst du das hier?“ Ich beäugte die mannshohe Pflanze, konnte jedoch nichts Außergewöhnliches erkennen, also schüttelte ich nach einer Weile den Kopf und sah Andrew forschend an.
„Das hier“, holte er im verschwörerischen Tonfall aus und zupfte vorsichtig einige Blütenfäden vom wohlriechenden Bäumchen, „ist mein neues Produkt. Mal hat es in Toronto gezüchtet, mir dann aber erzählen wollen, dass wir es nicht wie die anderen anbauen können.“ Ein diebisches Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit und wie immer, wenn er sich darüber freute, schlauer als jemand anderes gewesen zu sein, wirkte er trotz seines Alters irgendwie wie ein kleiner Junge. In Momenten wie diesen schien es mir beinahe unvorstellbar, dass dieser Mann vor zwanzig Jahren in kürzester Zeit die ganze Drogenmaffia eingenommen hatte und das noch dazu im Alleingang. Was hätte er alles erreichen können, wenn er diesen Verstand im konventionellen Sinn eingesetzt hätte? Vermutlich wäre er jetzt Senator, besäße mehrere Firmen oder hätte gar die Weltherrschaft an sich gerissen; Diesen verstörenden Gedanken schob ich aber eilig beiseite.
„Wie willst du es nennen?“, wollte ich mich erkundigen und roch an der herb-süßlichen Blüte, die vermutlich bald ganz Europa und Nordamerika im Sturm erobern würde. „Ich weiß noch nicht. Mal hat gesagt, dass das Kraut einem Sterne sehen lässt, also habe ich mir überlegt, wir könnten es vielleicht Firmament, oder so nennen.“ Ich blinzelte einige Male leicht irritiert und sah ihn dann amüsiert an. „Wie poetisch.“
„Oh, ich bitte höflichst um Vergebung, dass ich etwas Poesie ins Drogengeschäft bringen will“, meinte er prompt, so dass ich ihn erst sekundenlang sprachlos anstarrte, bevor ich anfing zu lachen.
Ich war wieder zu meinem Buch und dem Tee, in welchem mittlerweile einige Insekten herumschwammen, zurückgekehrt und träumte wieder besseren Wissens in den Tag hinein, als Andrew sich ächzend neben mich setzte und seine hellblauen Augen nachdenklich über die weite Hanfplantage schweifen ließ. „Diese Ausflüge zu den Produktionsstätten sind mir die liebsten“, begann er leise und rieb seine mit Erde und Harz verklebten Hände im Schoß. „Es ist so friedlich hier.“ Ich erwiderte nichts, obwohl ich ihn in Momenten wie diesen gerne gefragt hätte, ob er es manchmal bereute und ihm sein normales Leben nicht doch ab und an fehlte. Doch ich war schon lange genug seine Assistentin, um zu wissen, dass ich darauf keine Antwort erhalten würde. Viel mehr noch, glaubte ich in unserer gemeinsamen Zusammenarbeit so etwas wie Freundschaft zu erkennen und Freunden stellt man keine Fragen, deren Antwort sie fürchten. Ich wusste wie das war, es gab weder für ihn noch für mich ein Zurück, also hatte es auch keinerlei Wert, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, zumindest nicht offen, so dass es jeder sehen konnte – diese Gedanken blieben schlaflosen Nächte vorbehalten.
„Du hast mir noch immer nicht zu Ende erzählt, wie du Moranes damals von dir überzeugt hast.“ Er blickte von seinen Fingern zu mir auf und ich war froh, wieder das bübisch selbstgerechte Funkeln in seinen Zügen zu sehen. „Einfach“, begann er und ich war etwas erstaunt über die Aufregung, die in meinen Eingeweiden kribbelte. „Ich habe ihm ein Angebot gemacht, das er schichtweg nicht ausschlagen konnte und ihm etwas versprochen, das ihm kein anderer in seinen Reihen hätte geben können.“
Andrew kramte einen Glimmstängel aus seiner Hemdtasche und zündete ihn langsam an, so als wollte er mich absichtlich noch etwas länger auf die Folter spannen, bevor er sich auf dem komfortablen Bastsessel nach hinten lehnte und fortfuhr: „Ich war sein Zugang zu den Teppichetagen, Benefizparties und Yachthäfen. Und im Gegensatz zu den meisten Leuten, die in diesem Geschäft tätig sind, habe ich etwas, das man traditionellen Geschäftssinn nennt.“ Er zwinkerte mir zu und tippte sich drei Mal auf die eigene Nase, etwas, was er immer tat, wenn er mit einer besonders schlauen Idee angeben wollte. „Bevor ich aufgetaucht bin und die Vertriebsagentur aufgebaut hatte, haben diese Idioten hauptsächlich auf der Straße verkauft und sich wie Kinder auf dem Schulhof geprügelt.“
Damit schien für ihn die Erklärung beendet, denn er begann im Zeitschriftenstapel zu wühlen, wohl auf der Suche nach einem Kreuzworträtsel, griff sich dann einen Bleistiftspitzer, mit welchem er sorgfältig das Holz von seinem Stiftstummel wetzte.
„Wie ging es weiter?“, wollte ich dann wissen, worauf er mich perplex ansah, ganz so, als würde er meine Frage nicht verstehen. „Wie bist du Moranes losgeworden und wie hast du es zu Beginn vermieden, dass jemand direkten Kontakt mit dir hatte?“ Insbesondere die zweite Frage wurmte mich schon seit Ewigkeiten, denn absolute Diskretion war die einzige Möglichkeit, sich in diesem Geschäft zu schützen und Andrew hatte es geschafft, ein Geist zu bleiben, der Puppenspieler, den das Publikum nie zu Gesicht bekam. Wie hatte er all das aufziehen können, die ganze Organisation, die wie ein globaler Konzern agierte, mit Tochterfirmen und Geschäftspartnern, ohne das ihn jemals jemand persönlich kennengelernt hätte, es sei denn, das war sein Plan gewesen. Wenn ich das wüsste, wenn mein Mentor mir endlich diesen letzten Trick beibringen würde, dann würde ich tun können, was mein Vater von mir verlangt hatte. Ich vermied es Andrew anzusehen, er war mein Freund und ich wünschte, das würde für immer so bleiben können, aber ich war eine Moranes und hatte nie eine Wahl gehabt.
„Ach Yael“, seufzte er grinsend und streckte seinen Arm aus um mir sachte auf den Oberschenkel zu klopfen. „Deine Zeit, mich zu verraten, ist noch nicht gekommen.“