Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Dan hatte keine Ahnung, was zum Teufel diese dumme Kuh, seine Stiefschwester, hier in seinem Versteck zu suchen hatte. Leider wusste er genauso wenig wie er sie jetzt wieder loswerden sollte, ohne das ganze Haus auf sein Schlupfloch aufmerksam zu machen. Onkel Simon, dieser griesgrämige Sozialist, wie sein Vater zu sagen pflegte, saß bereits im Wohnzimmer und bald würden die anderen ihm Gesellschaft leisten.
„Das ist meine Besenkammer“, stellte Dan augenrollend fest.
„Spinnst du?“, kam prompt Annies Antwort auf die freche Behauptung.
„Ich war zuerst hier, so einfach ist das.“ Er war sich seiner absolut sicher und wenn er es sich überlegte, hatte er nicht bloß das Vorrecht an der Besenkammer, sondern am ganzen Haus. Immerhin wohnte Dan seit gut drei Jahren in diesem viktorianischen Bau, Annie hingegen war gerade erst vor fünf Wochen eingezogen.
„Ist mir scheißegal“, protestierte das blonde Mädchen flüsternd und streckte ihm ihren rosa lackierten Mittelfinger unter die Nase. Er hasste Rosa, so richtig, mit Leidenschaft. Deswegen waren seine Fingernägel auch schwarz bemalt, deswegen und weil sie so besser zu seiner schwarzen Kleidung passten.
„Mir geht es am Arsch vorbei, was dir egal ist oder nicht“, brummte der fünfzehnjährige Dan frustriert. „Das nächste Mal suchst du dir gefälligst einen anderen Ort!“
Annie hatte keine Ahnung, was zum Teufel dieser dumme Bengel, ihr Stiefbruder, überhaupt in ihrem Versteck zu suchen hatte. Blöderweise war es zu spät, ihm einfach eine überzubraten und aus ihrem Schlupfloch zu schubsen, denn so ein komischer Typ mit roter Mütze lungerte schon auf dem Lesesessel herum und der Rest ihrer unerwünschten Familienbande würde wahrscheinlich gleich folgen.
„Such du dir doch einen“, holte sie aus, darum bemüht ihr verhasstes Gegenüber nicht anzuschreien und sich so zu verraten. „Oder besser noch, erhäng dich mit der Telefonschnur!“
„Oh, sehr taktvoll“, erwiderte Dan in einem dermaßen sarkastischen Tonfall, sodass sie ihm am liebsten ins Schienbein gekickt hätte.
„Halt einfach die Klappe!“, forderte Annie schließlich resigniert, während sie gedanklich ihre Mutter verfluchte, die sie in diese Misere gebracht hatte. Wieso musste ihre Alte sich unbedingt in den Vater dieses Schwächlings verlieben, dachte sie zornig. Und jetzt musste sie darüber hinaus im selben Haus leben, eine Zumutung war das!
„Ja klar, Miss Sunshine, solange ich dann deine scheußliche Stimme auch nicht mehr hören muss, von mir aus“, meinte der dunkelhaarige Junge, ehe er ihr den Rücken zukehrte und sie die Tourdaten irgendeiner Heavy Metal Band auf seinem T-Shirt lesen konnte.
„Du bist die Pest!“
Dan erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem seine Erzfeindin in sein bis dahin friedliches Heim eingezogen war. Mit ihr kam tonnenweise nutzloses Zeug, sein Vater hatte sogar die Garage aufräumen müssen, nur um Annies Sportsachen irgendwo unterbringen zu können. Das war allerdings nicht das Schlimmste. Unter all dem Plunder hatte Dan tatsächlich eine Nintendo Wii entdeckt und damit alle Hoffnung verloren, sich jemals mit dem neuen Dauerhausgast verstehen zu können.
„Sagte das Ungeziefer“, frotzelte Dan feixend. Eigentlich stimmte es, Annies Anwesenheit war für ihn ähnlich einer Kakerlakenplage.
„Sagte das Ungeziefer“, äffte die Blonde ihren Stiefbruder nach und tat dabei so, als würde sie eine Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger halten. Blitzartig fuhr Dan herum, kniff die Augen zusammen und sah Annie forschend an.
„Woher weißt du das?“, verlangte er grollend zu erfahren. Niemand außer Mirko, seinem besten Kumpel, wusste von seinen gelegentlichen Qualm-Ausflügen hinter das Schulhaus.
„Ich bin nicht blind“, entgegnete die andere ruhig, bevor sie kichernd hinzufügte: „Vor allem kann ich riechen.“
Dan entfuhr ein unterdrückter Fluch. Nun musste er schnell handeln, irgendetwas finden, womit er Annie erpressen konnte. „Ich habe deine erotische Comicsammlung gesehen.“ Das würde sie vorerst in Schach halten, dachte er triumphierend.
Annie erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem sie aus ihrem friedlichen Zuhause gerissen worden war, um ein Zimmer neben diesem Gestörten zu ziehen. Das neue Haus war fürchterlich überstellt mit nutzlosem Zeug, so wie Campingausrüstungen oder Bücher über Astronomie. Das war allerdings nicht das Schlimmste. In Dans Zimmer hatte Annie tatsächlich einen Gaming-Computer entdeckt und damit alle Hoffnung verloren, sich jemals mit dem neuen Mitbewohner verstehen zu können.
„Du wirst es nicht wagen …“, zischte Annie wütend. Wenn ihre Freundinnen aus dem Fußballclub dieses delikate Geheimnis erfuhren, wäre es aus mit ihr. Sie konnte die Sticheleien schon hören und war fest entschlossen, Dan aufzuhalten. „Wenn du mich verrätst, dann zerschmettere ich dieses … Dieses Thermostat-Dingens!“
„Bitte was?“ Dan stellte sich sicher absichtlich doof, dachte Annie und geriet dabei weiter in Rage. „Meinst du meinen Wecker?“
„Nein!“, keifte sie ungehalten. „Dieses Dingens mit dem du den Roboter steuerst.“ Leider schien ihr Plan nicht aufzugehen, denn Dan lachte plötzlich lauthals los, hielt sich dabei sogar einen Putzlappen vor den Mund, um Onkel Simon nicht zu alarmieren.
„Nur zu“, stieß er zwischen zwei Glucksern hervor, „ich hab sowieso zu viele Fernsteuerungen.“
„Du bist echt so etwas von oberscheiße.“
Dan gab es nur ungern zu, aber er fürchtete, dass sich mit ihrem Wohnarrangement noch so einiges mitverändern würde. Sein Reich im oberen Geschoß von nun an mit einem vierzehnjährigen Mädchen teilen zu müssen, das Fußball spielte und eine Nintendo Wii besaß, war im Grunde lediglich der Gipfel des Eisbergs. Zudem war da diese bösartige Katze, ganz zu schweigen von der Frau, die wohl seine Mutter werden sollte. Nein, das alles war Dan einfach zu viel, besonders zum alljährlichen Weihnachtstreffen der Familie, weswegen er sich in Ruhe verstecken wollte.
„Dann steig doch in euren bescheuerten Nissan und fahr weit weg.“ Das war ebenfalls so eine Sache, wenn auch keine tragische. Annies Mutter fuhr einen hellblauen Kleinwagen, mit dem sie ihn zur Schule brachte. Abgesehen von der Peinlichkeit, in diesem Gefährt gesehen zu werden, hörte sie auf dem ganzen Weg ständig gehirnzerfressend seichte Popmusik.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie gerne ich das tun würde“, gab die Jüngere bedeutend trauriger zurück, als er erwartet hatte. Annie war ebenso wenig begeistert von der neuen Situation, das war ihm natürlich bewusst, dennoch hatte er bislang nie bemerkt, wie bedrückt sie aussah.
„Sorry“, sagte Dan kleinlaut, woraufhin ein ersticktes Schluchzen von seiner Stiefschwester zu vernehmen war. Sein Magen verkrampfte sich und verlangte von ihm, dass er seine Hand auf ihre schmale Schulter legte.
Annie gab es nur ungern zu, aber sie fürchtete, dass sich mit ihrem Umzug noch so einiges mitverändern würde. In ein fremdes Zimmer neben einem fünfzehnjährigen Jungen ziehen zu müssen, der die ganze Zeit über zeichnete und einen Gaming-Computer besaß, war im Grunde lediglich der Gipfel des Eisbergs. Zudem war da der stinkende Hund, ganz zu schweigen von dem Mann, der wohl ihr Vater werden sollte. Nein, das alles war Annie einfach zu viel, besonders zum alljährlichen Weihnachtstreffen der Familie, weswegen sie sich in Ruhe verstecken wollte.
„Ich habe eine Idee.“ Annie zog etwas Rotz die Nase hoch, setzte sich bolzengerade hin und begann über beide Backen zu strahlen. Als sie die warme Hand auf ihrer Schulter gespürt hatte, war ihr etwas schlagartig klargeworden: Dan war nicht ihr Feind, er war ihr Leidensgenosse. Genaugenommen konnte er ihr Verbündeter werden. „Wir sabotieren Weihnachten.“
„Unsere Eltern freuen sich darauf.“ Der Dunkelhaarige nestelte betreten an seinem Shirt herum und murmelte etwas Unverständliches. Dann verzog sich seine Mine zu einem gemeinen Grinsen. „Du willst Streit provozieren?“
„Ja, was denn sonst? So setzen wir diesem Unsinn ein Ende!“ Es war ihr einerlei, ob sie ihrer Mutter einen Strich durch die Rechnung machte, für Annie gab es bloß eines und zwar so rasch wie möglich wieder von hier verschwinden zu können. Selbst wenn sie sonst nichts gemeinsam hatten, da stimmte Dan ihr bestimmt zu.
Ohne zu zögern krallte er sich mit seinen schwarz lackierten Fingern ihre rosa gestrichenen, starrte ihr tief in die Augen und bekräftigte den Handschlag mit einem Flüstern: „Deal!“
Dan und Annie begriffen in dem Moment nicht, was geschah. Viele Jahre später werden sie jedoch liebevoll von diesem Pakt in der Besenkammer erzählen und jedes Mal unisono bestätigen: „Seit diesem kalten Adventstag sind wir Freunde.“