Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Der monotone Technobeat eines Schlagers plärrte aus dem Radio. Mit vom Kuchenteig verklebten Händen lehnte sich Sahel zu dem Gerät, das den unerträglichen Lärm verursachte, streckte den Ellenbogen aus und erwischte nach mehreren Versuchen den Playknopf des CD-Laufwerks. Endlich wurde das elektronisch verzerrte Gesülze von Rachmaninow abgelöst. Zufrieden nickte sie und widmete sich wieder dem breiigen Zeug in der Rührschüssel. Die Kokosraspel werden den Kuchen retten, redete sie sich gut zu, da erklang ein Rumpeln aus dem Kinderzimmer, gefolgt von einem entsetzten Aufschrei. Satt in Panik zu geraten, schmunzelte sie und trat ans Waschbecken. Sie hatte sich längst an Williams Eskapaden gewöhnt, war daher also weniger alarmiert, als amüsiert und ein klein wenig genervt. Seine Experimente verursachten in der Regel bloß massenhaft Dreck und Unordnung, Gefahr ging selten davon aus. Gelassen kratzte sie die angetrockneten Teigkrümel zwischen ihren Fingern weg und schlenderte dann in den Flur, wo sie den Jungen bereits durch die halboffene Kinderzimmertür fluchen hörte: „Blödes Kackding!“ Sie sollte nicht über das Unglück ihres Kindes grinsen, nein, vielmehr müsste sie ihm mitfühlend zu Hilfe eilen, stattdessen hielt Sahel inne, lauschte dem Gezeter und freute sich über die blumige Ausdrucksweise ihres Sprösslings. „Verkackter Kackmist!“
Sahel schob sich durch den Türspalt und ließ das Chaos, das sich vor ihr über Teppich, Schränke und sogar Wände ausbreitete, erstmal auf sich wirken. „Was ist hier passiert?“
„Ich wollte eine Stadt bauen“, begann William aufgebracht, schniefte und deutete auf einen Haufen Bauklötze. „Aber das Hochhaus hält nicht. Es kippt immer um und zerstört die Stadt, wie eine narkoleptische, übergewichtige Giraffe im Mäusegehege“, beschwerte er sich, Rotz am Ärmel abputzend.
„Aha.“ Sahel besah sich das städtische Desaster, kam ins Stocken. „Woher kennst du das Wort ‚nakroleptisch‘?“, hakte sie nach.
„Ach, das.“ Sogleich hellte sich Williams Ausdruck auf und er setzte sich bolzengerade hin. „Vor einigen Wochen marschierten auf dem Schulweg zwei ältere Damen vor mir her. Ihr Tempo erstaunte mich, wo doch eine mit Stock und die andere mit Krücken unterwegs war. Mir ist bis heute unklar, ob sie es eilig hatten oder ich Zeuge ihres allmorgendlichen Sportprogramms wurde. Nun, jedenfalls unterhielten sie sich über ihren alten Schulfreund, Fred, der gerade in das Haus am Dorfrand gezogen war, das, in dem die Moffat wohnte, bevor sie von ihren Katzen gefressen wurde. Der Umzug sei nur schwer von Statten gegangen, weil …“
„Okay, William“, unterbrach Sahel ihren Sohn. Der Glaube, eine einfache Frage bekäme eine ebenso einfache Antwort, war bei William ein Irrtum. Diesbezüglich war Claire definitiv das weniger anstrengende Kind. Sein Kopf spann stets Geschichten, Abenteuer, erfand Charaktere und Welten, die früher oder später raus mussten. „Das ist eine fabelhafte Story, jetzt sollte ich allerdings zurück zum Kuchen.“ Ehe sie Williams Chaoszimmer verlies, schlug sie vor: „Probier’s mit Legos, die halten besser.“
„Mama?“, wird sie auf dem Rückweg in die Küche aufgehalten. „Mama, darf ich dich rasch stören?“
„Natürlich, Claire, was ist?“ Ihre Tochter saß am Schreibtisch und rückte einen Papierstapel zurecht.
„Weißt du schon, wie lange die Party heute gehen wird?“
„Na, ich vermute so bis sechs, vielleicht sieben.“
„Sechs, vielleicht sieben“, wiederholte das Mädchen und verdrehte die Augen. „Kannst du mich bitte informieren, wenn du eine genauere Angabe hast?“ Ihr Organisationstalent hatte sich früh gezeigt, während William mit seinen Stofftieren Heldenreisen nachspielte, sortierte Claire sie nach Farbe, Größe, Zugehörigkeit zu den Tiergattungen und Schweregrad der Gebrauchsspuren.
„Gerne. Freust du dich denn auf die Feier?“
„Ja“, gab die Kleine tonlos von sich, dann fügte sie heiterer an: „Vor allem darauf, dass sie vorbei ist. Siehst du, ich habe mir Zeit für die Organisation meines neuen Notizbuchs freigehalten.“ Sie zeigte auf einen farbig markierten Rahmen in ihrer Agenda. „Vorne mache ich eine Tabelle, zwei Seiten fürs Inhaltsverzeichnis, eventuell drei, je nachdem wie groß die Zeilenabstände sind, danach lasse ich Platz für eine Quartals-To-Do-Liste, dahinter kommen meine Tracker, die können …“
„Okay, Claire“, sprach Sahel dazwischen. Der Glaube, Claire sei für eine spontane Gartenparty zu begeistern, war ein Irrtum. Diesbezüglich war William definitiv das weniger anstrengende Kind. Ihr Kopf strukturierte alles im Voraus, organisierte Tage, Wochen, Monate und Jahre, eine Leidenschaft, die ebenso praktisch wie fatal sein konnte. „Das ist ein brillanter Plan, jetzt sollte ich allerdings zurück zum Kuchen.“ Ehe sie Claires Saubermannzimmer verließ, schlug sie vor: „Probier’s mit einem Spiel-Tracker, dann vergisst du das nicht.“
„Heute regnet es wahrscheinlich nicht mehr“, murmelte Sahel zum Himmel aufschauend, über den einige Wolkenfetzen zogen. Junika, ihre Nachbarin, zündete sich jenseits des Gartenzauns eine Kippe an.
„Ja, ein richtig gemütlicher Tag“, schwärmte sie. „Und es riecht so gut.“
„Du meinst nicht etwa meinen Kuchen?“ Sahel lachte auf. „Ich bin vieles, aber bestimmt keine Bäckerin.“
„Du backst für Siebenjährige, die verschlingen alles, was aus ordentlich Zucker und Fett besteht“, beschwichtigte sie Junika und knackte sehr zum Leidwesen ihrer Freundin mit den Handgelenken.
„Hast du meine Kinder mal kennengelernt?“, wandte Claires und Williams Mutter grienend ein.
„Stimmt. Geburtstagspartys mit Kuchen kommen wohl nicht gut an.“
„Nein.“ Sahel seufzte, rieb sich übers Gesicht und erklärte: „Claire verbringt ihre Zeit am liebsten damit, Dinge zu sortieren und dann durchzudenken, wie sie noch effizienter sortiert werden können. Und William baut an seinen Gedankenwelten herum, die er dann mit tausend Charakteren bevölkert.“
„Was ich dafür gäbe, wenn sich meine selbstständig beschäftigten“, ächzte Junika, deren Zöglinge meistens die halbe Schulklasse mit nach Hause brachten.
„Naja“, brummte Sahel, klaubte der anderen die Zigarette aus den Fingern und gönnte sich einen tiefen Zug. „Neulich hat meine Siebenjährige meinen Nachttisch aufgeräumt, dabei mein …“ sie suchte kurz nach einem passenden Euphemismus, „… organisches Migränemedikament entdeckt, recherchiert, was es ist und mich beim Abendessen darüber in Kenntnis gesetzt, Marihuana habe einen negativen Einfluss auf die Produktivität.“
„Scheiße“, prustete Junika sichtlich amüsiert.
„Das ist noch nicht alles.“ Nach einem weiteren Zug erzählte sie: „William hat sich davon für eine Kurzgeschichte über einen faulen Mamadrachen inspirieren lassen, der unentwegt qualmte, hat die Story im Deutschunterricht abgegeben. Der letzte Elternabend war … Sagen wir mal ‚interessant‘.“
„Ist nicht wahr? Darf ich die mal lesen?
„Frag ihn, er hat hunderte Kurzgeschichten bei sich rumliegen und Claire hat sie alle kategorisiert.“
„Schon faszinierend, die beiden. Der eine ist kreativ und experimentierfreudig, die andere minutiös und gewissenhaft. Zum Glück sind es Zwillinge.“ Junika kramte einen zweiten Glimmstängel aus dem Päckchen, da Sahel augenscheinlich nicht vorhatte, ihren geklauten herauszurücken.
„Wie meinst du das?“
„Na, zu zweit regulieren sie sich gegenseitig. Stell dir vor, du hättest ein Kind, das die Charakterzüge von Claire und William in sich vereint hat. Das wäre ein Superheld.“
„Meine Güte.“ Sahel hustete. „Eher ein Superschurke.“
„Dir ist bewusst, die beiden werden eines Tages kapieren, dass sie zusammenarbeiten können. Sie werden die Weltherrschaft an sich reißen“, stachelte Junika Sahels Fantasie an, die sofort fieberhaft überlegte, wie das zu verhindern wäre.
„Keine Sorge, das wird nicht geschehen“, fiel ihr schließlich ein. „Wenn sie auch sonst keine Gemeinsamkeiten haben, ihre Tollpatschigkeit wird sie ausbremsen.“
„Ja, ja, hoffen kannst du“, kicherte Junika und wechselte das Thema: „Entschuldige, ich muss weiter, Einkäufe erledigen. Richte deinen Despoten Glückwünsche aus und habt viel Spaß auf der Geburtstagsparty.“
„Danke, du fiese Nudel, dir auch alles Gute.“ Sie winkte der Nachbarin hinterher, drückte die Zigarette auf einer Zaunlatte aus und kehrte ins Haus zurück. Bevor sie die Terrassentür hinter sich schloss, kam sie ins Stocken. Was, wenn sich die Zwillinge tatsächlich zusammenschlossen, um die Weltherrschaft zu übernehmen?