Cynthia schlenderte gelangweilt über den Pausenhof ihrer High School und blinzelte, als sie durch ihre dicken Brillengläser von der grellen Mittagssonne geblendet wurde. Ihr fiel der alte Trick ein, dass man mit einer Lupe etwas in Brand setzen konnte und für einen kurzen Moment war sie beunruhigt. Der Schnee machte die Sache auch nicht besser, da er die Sonnenstrahlen unerbittlich reflektierte und sie kniff die ihre tränenden Augen zusammen. „Verdammt“, murrte sie genervt, zog die Brille ab und hauchte darauf, um sie danach mit einem Mikrofasertuch abzuwischen. Obwohl sie ohne Brille kaum einen Meter weit sehen konnte, fielen ihr die vielen kleinen Stäubchen auf den Gläsern auf, die auf mysteriöse Weise ständig dort landeten, genau wie die Gegner, die in Videospielen immer wieder auftauchten und deren einzige Aufgabe es war, sie zu ärgern.
Nachdem sie beim fünften Anlauf zufrieden damit war damit war und keine Schlieren mehr zu erkennen waren, setzte sie das Ding wieder auf und nestelte das Handy aus ihrer Jackentasche. Sie konnte sofort sehen, dass ihr jemand eine neue SMS geschickt hatte und gab ein gereiztes Geräusch von sich. „Wie schwer kann es denn sein, WhatsApp zu installieren?“ Rasch öffnete sie die Nachricht und überflog den Text, bevor sie eine kurze Antwort eintippte und das Gerät wieder wegsteckte. Sie würde heute früher zu ihrem Nebenjob als Babysitterin erscheinen müssen. Früher, als sie noch für eine andere Familie gearbeitet hatte, war sie alles andere als glücklich damit gewesen, doch seit sie auf den achtjährigen Jake aufpasste, hat sich das geändert. Cynthia konnte ihn gut leiden und hatte nicht das Gefühl, ihre Jugend damit zu vertrödeln, ihm Abendessen zu kochen und Gutenachtgeschichten vorzulesen.
Sie hatte schon einige Jobs als Babysitterin gehabt, die aber allesamt nicht gut ausgegangen waren. Einerseits hatten sie die Kinder genervt und andererseits hatte sie die Kleinen damit verschüchtert, dass sie keine braven Märchen, sondern viel lieber unzensierte mittelalterliche Fabeln und klassische Fantasygeschichten vorlas. Jake war der Erste, der an ihren Schauergeschichten seine Freude hatte und sie dazu noch leiden konnte. Mit ihm konnte Cynthia ihre Begeisterung für Orks, Goblins und Trolle besser teilen als mit sonst jemandem, er war mit einer beinahe unstillbaren Neugier bei der Sache.
„Hey, hast du heute Abend schon was vor?“ Cynthia war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie Andrea gar nicht kommen gehört hatte und zusammenzuckte. Entweder fiel der Cheerleaderin Cynthias Reaktion nicht auf oder sie ließ sich nichts anmerken, denn sie fuhr unbeirrt fort. „Ich habe mir heute neue Schlittschuhe gekauft und gehe später mit den anderen Mädels von unserer Klasse aufs Eis.“
Cynthia zögerte kurz. Sie wusste nie so recht, woran sie mit Andrea war, immerhin war sie das pure Gegenteil von ihr. Andrea war beliebt und vor allem mit anderen populären Mädchen befreundet, trotzdem hatte Cynthia nie mitbekommen, dass sie schlecht über sie gesprochen hatte. Cynthia dagegen war die typische untypische Teenagerin, doch sie hatte, zumindest aus ihrer Sicht, einen bedeutenden Vorteil: Sie glaubte zu wissen, wie normal sie das machte. Nur spielte es keine Rolle, für wie normal man sich hielt, wenn die anderen einen als komisch betrachteten. „Nein, ich kann leider nicht, aber danke“, antwortete sie etwas unsicher. „Ich muss nachher noch den Jungen der Nachbarin hüten.“
Andrea nickte und murmelte: „Klar.“ Sie setzte bereits dazu an, sich zu verabschieden, als sie innehielt und fragte: „Hast du nicht mal gesagt, du hast mit deinen Schauergeschichten alle Kinder vergrault?“
Cynthia erstarrte und schluckte leer. Sie wusste, wie viel über sie an der Schule gelästert wurde und so lange sie Andrea nicht einschätzen konnte, wollte sie ihr keinen Zündstoff liefern. Ihr fiel der Spruch „Bitte die Trolle nicht füttern“ ein, aber eigentlich sah sie die Zickenbande eher als Goblins, sie waren nervtötende Kreaturen und gierig, wenn auch nicht auf Gold, so doch auf den neusten Klatsch. Ob Andrea ein Goblin war, würde sich erst noch zeigen müssen, aber bis dahin musste sie irgendwas antworten. Weil ihr trotz ihrer Grübeleien nichts Besseres einfiel und sie die Fabelwesen nicht mehr aus dem Kopf kriegte, entgegnete sie hastig: „Offenbar hatten die meisten keine Freude an Goblins.“ Nur einige Augenblicke später bemerkte sie, wie sie errötete.
„Goblins?“ Andrea starrte sie verständnislos an, bevor sie loskicherte. „Sag nicht, du hast den Kleinen mittelalterliche Schauergeschichten oder Fantasyromane vorgelesen?“
Cynthia sah leicht beschämt zu Boden und murmelte ein extra leises „Ja“. Dann fiel ihr etwas ein und sie fügte selbstbewusster hinzu, während sie auf Andreas Eulen-Halskette deutete: „Ich habe halt mit Goblins das, was du und deine Freundinnen mit Eulen haben.“ Im selben Moment erinnerte sie sich daran, dass sie sich vorgenommen hatte, die Goblins nicht zu füttern und schalt sich innerlich dafür, dass sie einfach nie die Klappe halten konnte. Eigentlich wäre sie nun alt genug, um es besser zu wissen, oder?
Andrea nahm ihre Halskette in die Hände und schaute sie verwirrt an, meinte dann aber amüsiert: „Stimmt, Eulen sind momentan voll im Trend.“ Sie schien nachzudenken, bevor sie fragte: „Sag mal, spielst du etwa auch ‚Dungeons and Dragons‘?“
Cynthia hätte sich am liebsten an Ort und Stelle im Boden vergraben. Verhielt sie sich wirklich dermaßen stereotyp, dass Andrea sie so was fragte oder war es bloß eine Falle? Doch bevor sie weiter überlegen konnte, sprudelte es aus ihr heraus: „Na, und ob!“
„Cool“, meinte Andrea. „Wenn du willst, können wir bei Gelegenheit mal zusammen spielen, ich habe ein paar Kumpels, die sicher auch Freude hätten, wenn du mitmachst.“
Cynthia zögerte, entschied sich dann aber rasch. „Sicher, wieso nicht. Schreib mir einfach, du hast ja meine Nummer.“
„Natürlich, werde ich“, meine Andrea, winkte ihr eilig zu und hastete von dannen, wahrscheinlich war sie in Eile, ihren Cheerleader-Freundinnen ihre neuen Schlittschuhe vorzuführen. Cynthia lehnte sich an die Hauswand und grübelte darüber, ob Andrea ehrlich gewesen war oder sich mit ihr einen derben Scherz erlauben wollte. Sie würde es nicht herausfinden können, wenn sie sich nicht auf die Sache einließ und sie war sich schon jetzt im Klaren darüber, dass sie Andreas Einladung annehmen wollte – manchmal musste man einfach das Risiko eingehen, die Goblins zu füttern.
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