Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Die Wanduhr tickte gleichmütig vor sich hin, meist unbemerkt, doch hin und wieder fiel es ihm auf, das Geräusch, das jede verschwendete Sekunde markierte. Julian hockte mit überkreuzten Beinen in der rechten Ecke auf der Polstergruppe, fixierte die Wand hinter dem Fernseher und wartete. Dieses reglose Verharren war zu seinem Lebensinhalt geworden, sein Verstand in eine sonderbare Katatonie verfallen, unbeweglich, ein Skelett ohne Muskeln. Er fühlte sich wie ein Reisender, der kurz nach Aufbruch gescheitert und im Nirgendwo gestrandet war, in seiner Hand eine zerknüllte Landkarte auf der Straßen eingezeichnet waren, die ihm nicht länger offenstanden. Julian war verloren, zumindest verloren gewesen. In einer knappen Viertelstunde ginge die Sonne auf, ein letztes Mal wollte er ihr dabei zusehen, wie sie sich aus der Verschmelzung mit dem Bergkamm seiner Heimat befreite. Bunte Blitze zuckten über den Bildschirm, er registrierte keine Bedeutung darin, das Programm flackerte an ihm vorüber, Tag um Tag.
Ein tiefes Seufzen war schließlich der erste Laut seit einer kleinen Ewigkeit, der ihm entwich, als er seinen Rücken aus den Kissen löste und sich aufrecht hinsetzte. Julian hatte versucht, trotz seinen Fehlern, seinem Versagen ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu sein, glücklich zu werden. Neben dem Durchgang zur Küche türmten sich Stapel um Stapel aus Selbsthilfebüchern, Meditationsratgebern, im Keller lagerten verschiedenste Sportgeräte und an der Pinnwand hingen etliche Kontaktadressen der Therapeuten, die sich vergebens um ihn bemüht hatten. Damals hatte er gelglaubt, er sei nicht in Ordnung, jeder schien dieser Meinung zu sein, bis ihm letztendlich die Augen geöffnet wurden. Er würde seinen neuen Freunden immer dankbar sein dafür, sie waren die einzigen, die sein Potential erfassten. Sein Kopf schwenkte ein wenig nach links, vor den Fenstern zerschnitten Sonnenstrahlen das schummrig-schmutzige Licht der Dämmerung, sein Smartphone vibrierte auf der Tischplatte.
„Hm?“, machte Julian lustlos, räusperte sich und wiederholte: „Hm?“ Die Frau plauderte weiter, während er das Mobiltelefon vom Ohr nahm und traurig auf den Display schaute. Bis vor einer Weile hatte er gerne telefoniert, vor allem, um mit seiner Schwester zu sprechen. Sie rief regelmäßig an, um zu erfahren, ob es ihm gut ging und teilte mit ihm allerlei Dinge aus ihrem Alltag. Manchmal ging es um ihre Mitarbeiterinnen im Café, meistens um die Kinder und stets erzählte sie, was sie gerade auf dem Herd stehen hatte. Penne mit Tomatensauce war die Lieblingsspeise seiner beiden Nichten, die jüngere mochte dazu ordentlich Reibkäse, die ältere aß vegan, außer beim Besuch im Schnellrestaurant, dort konnte sie nicht auf die Chicken Nuggets verzichten. „Nein, danke“, meinte er zu der fremden Stimme am Telefon, die ihm ein Versicherungspaket aufschwatzen wollte und legte auf. Julian vermisste seine Schwester, auch nachdem der Rest der Familie keine Geduld mehr für ihr übrig hatte, war sie seine Verbindung zur Welt geblieben. Nun war das vorbei. Eigentlich war alles vorbei. Niemand war bereit, die Wahrheit zu hören, viel lieber unterwarfen sie sich einer Macht, die nur Julian und seine neuen Freunde erkannten.
Der Moment rückte näher, von seiner Perspektive sah es so aus, als verweilte der obere Sonnenrand wenige Millimeter über der Bergspitze, die er vor Jahrzehnten mit seinem Vater bewandert hatte. Das war lange her, wie die fast jede Freude, waren diese Sommerausflüge bloß eine schwammige Erinnerung. Ächzend rutschte Julian an den Rand der Couch und berührte mit seinen nackten Zehen den Teppich. Seine Glieder kribbelten, wachten nach und nach auf von der Starre, in der er die vergangenen Stunden verbracht hatte, irgendwo im Raum surrte eine Stubenfliege, der Fernsehmonitor schaltete auf Schwarz. Seine Gedanken kamen in Fahrt, rasten wie ein mit Hochoktan gefüllter Rennwagen um diese eine Sache im Kreis, mit der er endlich den Ruhm erfahren würde, der ihm zustand. Bald war es soweit, im ganzen Land verteilt erwarteten seine neuen Freunde, dass er aufstand, für sich, für sie, sogar für all jene, die ihn und seinesgleichen belächelten, gar bekämpften. Julian schnaufte tief durch, ergriff sein Handy und strich mit dem Daumen sachte über die Noppe an der Seite, bevor er das Gerät mit seinem schiefen Lächeln entsperrte und eine ausländische Prepaid Nummer wählte.
„J. M. hier“, sagte er, sobald jemand ranging. „Mache mich in fünf Minuten auf den Weg.“
„Sehr gut. Das Paket wird rechtzeitig platziert.“ Julian kannte den Mann nicht, er war eines von vielen namenlosen Gesichtern im Bündnis, lediglich eine Abzweigung im Labyrinth, das seine Freunde für ihre Gegner geplant hatten. Auch denjenigen, der die Milzbrand-Bombe gebaut hatte, hatte er nie gesehen, dennoch waren sie als Teil von etwas Großem geeint und Julian, ja, Julian wäre bald ihr Märtyrer. „Ehre dir.“
„Danke“, erwiderte er und drückte den Anruf weg. Die Sonne tauchte jetzt endgültig über dem Gipfel auf, über den stahlblauen Himmel zogen einige Wolken herbei und drohten mit Regen. Es war Zeit.
Erneut klingelte sein Smartphone, das Foto seiner freundlich lächelnden Schwester wurde angezeigt und er streckte wie ferngesteuert seinen Arm aus. Er wollte nicht mit ihr sprechen, sich auf keinen Fall von ihr aufhalten lassen und doch, nahm er das Gespräch entgegen: „Ja?“
„Julian? Julian, Papa hat es mir gesagt, ist es wahr?“, sprudelten aufgeregte Worte aus ihr heraus. „Ist es wahr, du hast heute einen Termin? Ich bin ja so stolz auf dich, Julian, so stolz!“
„Mach dich ruhig über mich lustig, du wirst schon seh…“
„Was? Nein“, unterbrach sie ihn in einem ungehemmt beschwingten Tonfall, der seit Monaten aus ihren Unterhaltungen verschwunden war. „Nein, Julian, ich mache mich nicht lustig über dich. Ich bin so stolz, Julian, Respekt dafür!“
„Respekt?“, fragte er und lehnte sich gegen die Couchpolster.
„Natürlich! Natürlich ich bin so stolz auf meinen kleinen Bruder mit dem Impftermin. Ach Julian“, schwärmte sie hörbar begeistert. „Dass du deine Meinung geändert hast, ist wirklich groß von dir. Das war bestimmt alles andere als einfach für dich. Aber wie ich immer sage …“, plapperte sie weiter, holte kaum Luft, ihm war, als könnte er die Wärme ihres Optimismus, ihrer Liebe zu ihm auf der Haut spüren. Es brannte, schmerzte ihn in diesem Augenblick, wo er so kurz vor der Erfüllung all seiner Träume stand, von seiner Schwester ins Schwanken gebracht, förmlich zerrissen zu werden. Er konnte unmöglich zulassen, von ihr verleitet zu werden, er war kein Schaf, er und seine neuen Freunde waren Teil von etwas Großem und dieses Gefühl gäbe er um keinen Preis wieder her. „Sich von starren Vorstellungen zu verabschieden und seine Meinung zu ändern hat Würde.“ Da schoben sich die Wolken vor die Sonne und er blendete sie aus. „Hach, ich bin so froh, erleichtert! Das ist ganz groß von dir. Ganz groß!“