Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Ich wünschte, ich wär woanders“, flüsterte das Mädchen unter der Bettdecke. „Weit, weit weg.“ Eine Weile blieb es still, da legte der Bruder seine Lektüre auf den Nachttisch und kroch zu ihr ins Bett. Ihr Herz tat weh, eine große Angst hielt es umklammert und drückte zu.
„Dann lass uns verreisen“, meinte er und zupfte am Duvet. „Zum Mond, vielleicht in die Berge?“
„Geh weg.“ Ihr neues Heim, die lieblos karge Einzimmerwohnung, die man ihnen zugeteilt hatte, wirkte eher wie ein Showroom, als wie ein Zuhause.
„Mache ich. Komm mit.“ Auch in seinem Kopf kreisten Gedanken, schwebten krähenartig über ihm und gönnten ihm keinen Schlaf. „In den Wald? Du magst den Wald, oder?“ Mehr als ein Brummen gab sie nicht von sich. „Nun komm schon, ich bringe dich überallhin, du musst mir bloß sagen, wo es dir am besten gefällt.“
„Eine Insel“, murrte sie und lugte hervor. „Eine Insel wär schön.“ Sie setzte sich auf, um ihren Bruder skeptisch zu beäugen, der ihr ein aufmunterndes Schmunzeln schenkte.
„Wunderbar, eine Insel.“
„Eine mit Strand. Und Fischen.“
„Okay, eine mit Strand und Fischen. Was sonst?“ Sie rutschte an den Bettrand, saß da und starrte kurz wortlos auf ihre Hände.
„Pinguine. Ich will Pinguine.“
„Pinguine.“ Erleichtert zog er seine kleine Schwester zu sich und streichelte ihr eine Träne von der Wange. „Die sollst du haben, ganz viele.“
„Zwei reichen aus“, erklärte sie, noch hörte man den Kummer in ihrer Stimme.
„Na gut, zwei Pinguine. Wie heißen die?“
„Wenli und Ang.“ Nach und nach, langsam nur, mischte sich aufgeregte Freude in ihre düstere Laune.
„Prima. Strand, Fische, Wenli und Ang“, zählte er auf, forderte sie mit einem Blick auf, ihre Insel weiter zu bevölkern.
„Kann es dort auch Zebrakäfer geben?“, erkundigte sie sich hoffnungsvoll. „Und eine Pinata?“
„Natürlich.“ Bedacht atmete er ein, hielt die Luft an, kostete sie aus, bevor er nachfragte: „Na, was gibt es dort noch?“
„Kuchen“, sagte sie bestimmt und rieb sich den Bauch.
„Was für Kuchen?“
„Marmorkuchen mit Rosinen.“ Endlich grinste die Schwester, hämisch zwar, dennoch befreit.
„Bwäh!“, protestierte der Bruder gegen die verschrumpelten Trauben. „Rosinen sind eklig!“
„Sind sie nicht.“
„Sind sie wohl.“
„Sind sie nicht!“ Ihm die Zunge rausstreckend krabbelte sie ans Kopfende ihres Kinderbetts und guckte ihn trotzig an.
„Tja, deine Insel, dein ekliger Rosinenkuchen“, lenkte er ein und zählte wiederholt auf: „Strand, Fische, Wenli, Ang, Zebrakäfer, eine Pinata und“, er schluckte gespielt angewidert, „Marmorkuchen mit Rosinen. Was noch?“ Behutsam deckte er sie zu, packte sie fest in ihre hellblaue Wolldecke ein und rückte etwas näher.
„Das ist blöd.“ Sie verzog die Schnute, schnappte sich ihr Stofftier und vergrub sich im Kissen. „Es gibt gar keinen Kuchen!“
„Und ob es den gibt.“
„Nein, tut es nicht.“
„Ich beweise es dir.“ Er wartete ab, bis seine Schwester zögerlich den Kopf hob. „Echt, ich kann’s beweisen.“ Sie zog die Nase hoch und schaute ihn erwartungsvoll an. „Soll ich?“ Nickend hockte sie auf und umarmte ihren Plüschpinguin. „Schließ die Augen. Nun mach, schließ die Augen.“ Erneut schniefte sie, machte dann, was er verlangte. „Also, es ist früher Nachmittag, die Sonne steht fast mittig am Himmel. Wir sitzen in Badesachen unter einem Grüppchen von Palmen, aus dem Sand wachsen so strohige Gräser, die uns in den Hintern pieken. Das macht uns aber nichts, nein, wir finden das sogar lustig.“
Sie kicherte, schien die Hälmchen am Hintern zu fühlen, ja wackelte gar hin und her.
„Es ist schön warm, nicht zu heiß, weil ein angenehmer Wind weht und dir die Fransen zerzaust. Es duftet nach diesen komischen Blumen, die Tante Bee auf dem Balkon stehen hat, die gelben, nicht die violetten. Das Meer ist keine dreißig Meter von uns entfernt. Wir könnten im Nu ins Wasser rennen und dort die bunten Fische beobachten, wie sie um die Korallen herumschwimmen.“
„Die Korallen brennen aber“, wandte sie ein, wollte ihre Lider öffnen, doch der Bruder beschwichtigte sofort:
„Diese Korallen brennen nicht, sie kitzeln schlimmstenfalls.“
„Dann ist ja gut“, nuschelte sie zufrieden und ließ sich aufs Kopfkissen fallen.
„Die Wellen rauschen heran, bringen luftig weiße Bläschen an den Strand und wenn sie sich zurückziehen, lassen sie uns Muscheln da, die wir später einsammeln. Die Küste ist so lang, dass wir in beide Richtungen kein Ende erkennen, gesäumt von der kobaltblauen See. Wenli und Ang zanken sich um ein Bonbon aus deiner Pinata, deswegen wirfst du den beiden Streithähnen eine Handvoll Gummidrops hin. Sie freuen sich, watscheln klatschend auf und ab.“
Seufzend rollte sich die Schwester zur Seite, gähnte und erfreute damit ihren großen Bruder. Er hatte sich auf verlorenem Posten geglaubt, befürchtet, sie nach allem, was geschehen war, nie wieder friedlich einschlafen zu sehen.
„Du entdeckst du einen Zebrakäfer, der dir über die nackten Füße spaziert und hörst den Vögeln beim Singen zu. Sie erzählen von ihrer langen Reise hierhin. Neben uns steht ein Picknickkorb und weil ich ein toller Bruder bin, habe ich Marmorkuchen mit Rosinen für dich eingepackt und für mich eine Weinflasche. Der Sand ist so fein, ein bisschen wie Samt oder Katzenfell und …“
„Mama und Opa sind da“, unterbrach sie seine Schilderung schläfrig, fiepte dünn: „Mama.“ Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht, irgendwo zwischen Schlaf und Fantasie hatte sie Glück gefunden. „Und Opa.“
Da schwieg der Bruder eine lange Zeit.
Während seine Schwester schlummerte, unterdrückte er sein Schluchzen, so wie er es seit Wochen tat. Ruhig schnaufte sie ein und aus, schnarchte sogar ein klein wenig. Ihre Wärme erlaubte es ihm, die Müdigkeit zuzulassen, so schloss auch er schlussendlich seine Augen und begleitete seine ganze Familie zum Strand.