Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Obwohl sich diese Kurzgeschichte an einem realen Handlungsort abspielt, sind die Geschehnisse und die handelnden Personen frei erfunden.
Schlagzeilen wie „Die Gewinner des Jungschützenfestes“ oder „Diebstahl in der Dorfbibliothek“ säumten H. Heinrich Häberlis Karriere, als wären sie leuchtende Pfeiler seiner journalistischen Bestrebungen. Man musste bloß die Metaebene dieser mondän erscheinenden Artikel beachten, was selbstverständlich kaum einer tat. Für die Neue Zürcher Zeitung hatte er als Jugendlicher schreiben wollen, später begnügte er sich mit überschaubareren Zielen, wäre froh gewesen, für die Freiburger Nachrichten Lokalnews zu recherchieren. Naja, es kam wie es eben kam, weshalb H. Heinrich Häberli seit bald vierunddreißig Jahren Chefredakteur, pardon, Chefredaktor des renommierten Gurmerler Boten war. Dieser belieferte die Einwohner des Dorfs Gurmels, sowie den zur Gemeinde gehörenden Regionen Kleingurmels, Wallenbuch, Cordast, Monterschu, Liebistorf und Guschelmuth einmal monatlich mit vitaler Berichterstattung. Meist mit Verzögerung, sollte hier erwähnt werden, denn anders als eine waschechte Tages- oder Wochenzeitung, handelte der Gurmeler Bote mit Nachrichten, die ihr Mindesthaltbarkeitsdatum fast immer überschritten hatten. Nicht erst nach dem Aufkommen der Personalcomputer und des Internets war es schwierig geworden, die Bürger für Nebensächlichkeiten von vor drei Wochen zu begeistern. So kam es, dass der Gurmeler Bote trotz größten Anstrengungen seitens H. Heinrich Häberli von der Mediengruppe eingestampft wurde. Das war bereits vor elf Jahren geschehen, allerdings weigerte sich der engagierte Chefredaktor bis heute, seinen Posten zu räumen. Also arbeitete er ohne Bezahlung und veröffentlichte, dank der Zuwendung eines dorfbekannten Unternehmers, den Gurmeler Boten weiterhin pünktlich jeden dritten Freitag des Monats.
„Schatz“, flötete H. Henrietta Häberli, während sie mit einem runden Tablett in der Hand über die Schwelle aus der Küche schlenderte. „Du musst was essen. Schau, ich habe dir ein belegtes Brötchen gemacht. Mit Thunfisch. Der Doktor meinte, du sollst etwas abnehmen.“ Sanft lächelnd schob sie einige ordentlich beschriftete Mäppchen beiseite und stellte das Mittagessen für ihren Ehemann auf dessen Schreibtischkante. H. Henrich Häberli fand den neuen Dorfarzt unausstehlich und zwar nicht nur, weil der ihm ständig seine Korpulenz vorhielt, das hatte der alte auch gemacht, sondern da der Bursche unverschämt jung war und er sich im Untersuchungszimmer wie ein Greis vorkam.
„Später, Rietti“, murmelte der emsig schreibende Chefredaktor. Endlich war er an einer ganz gewaltigen Sache dran, an Essen war nicht zu denken.
„Oh, Heini. Hast du weder Hunger noch Durst?“ H. Henrietta Häberli machte sich zunehmend Sorgen um ihren Liebsten und sie hielt damit keineswegs hinter dem Berg. „Und der Doktor hat dir ausdrücklich aufgetragen, jeden Morgen spazieren zu gehen.“ Seit H. Hubert Häberli, ihr Sohn, im Rösli, dem hiesigen Wohnheim für Menschen mit einer psychischen Behinderung lebte, glaubte die werte Gattin, ihren Mann bemuttern zu müssen, was diesem gehörig auf den Zeiger ging. Sie solle ihre Fürsorge besser dem Hund, einem uralten Rauhaardackel, aufdrängen, statt ihn zu nerven, hatte er ihr mal gesagt und es sogleich bereut. Ja, ja, mit H. Henrietta Häberli war selten gut zu spaßen, ein solcher Spruch handelte gut und gerne tagelanges Streiten ein. „Das ist ungesund, Heini, den lieben langen Tag im Wohnzimmer über dem Schreibtisch zu brüten, also wirklich!“
„Herrgott, Rietti, lass mich in Frieden.“ Selenruhig heftete H. Henrich Häberli ein weiteres Papier ab und klappte sein Mäppchen zu, dann fischte er ein neues Blatt aus der Schublade. „Ich sitze ja nicht im Wohnzimmer herum. Das ist das Büro des Chefredaktors“, verteidigte er sein Heiligtum. Den Häberlis ging es mit der Rente eigentlich ganz ordentlich, extra Büroräume für den Gurmeler Boten anzumieten, lagen leider doch nicht drin. Zumindest reichte es für das Alltägliche problemlos und sie konnten es sich sogar erlauben, im Sommer zu H. Hanna Häberli zu Besuch zu fahren. Die Tochter war eine ganz gescheite, wie der Vater stets betonte, die hatte nämlich studiert und lebte im nahen Ausland mit ihrer Frau. Ein kleiner Skandal war das damals in den späten Sechzigern schon gewesen, als das Mädchen plötzlich mit einem anderen Mädchen daherkam. Aber H. Heinrich Häberli war resistent gegen Geläster und dergleichen, schließlich war er Journalist und gab wenig auf Gewäsch.
H. Henrietta Häberli wusste, wenn der Heini in dieser Laune vor sich hin brummte, war Hopfen und Malz verloren, weswegen sie lediglich mit den Augen rollte, tief ausatmete und schlussendlich mitsamt dem Thunfischbrötchen zurück in die Küche tippelte. Na, wenigstens Holger der Hund würde ihre Bemühungen schätzen.
„Nano-was?“, hakte H. Henrietta Häberli erstaunt über die lebhafte Manier ihres Ehemannes nach. „Was ist das?“
„Nanotubes“, wiederholte er geschwind, schüttelte danach den Kopf, bevor er sich ereiferte: „Das sind kleine Röhrchen … oder so ähnlich. Ach, was weiß ich, man muss nur wissen, dass die eventuell gefährlich sein können. Krebserregend wie Asbest, Rietti, die sind vielleicht krebserregend!“
„Okay, das ist nicht gut. Ist das denn sicher?“ Wenn man sich schon lange kennt, lernt man irgendwann mit den Verrücktheiten des anderen umzugehen, deswegen stand H. Henrietta Häberli einfach neben dem Schreibtisch sowie dem unüblichen Chaos darauf und hörte geduldig zu. Ob diese Nano-Dinger tatsächlich eine Gefahr werden könnten, interessierte sie sowieso nicht, sie war ohnehin zu alt, um sich über die Zukunft Gedanken zu machen.
„Das werde ich herausfinden“, erklärte er und wischte sich mit dem Hemdsärmel die Nase ab. Er war höchst erregt, geradezu frenetisch und wühlte hektisch in sämtlichen Schubladen seines Schreibtisches. „Wo ist die Kiste mit den Batterien?“, blaffte er mehr sich selbst, als seine Frau an. „Ich brauche eine neue Knopfzelle für die schöne Uhr. Wenn ich Leander Löri konfrontiere, will ich adrett ausseh…“
„Leander Löri?“, unterbrach ihn H. Henrietta Häberli harsch. „Der Leander Löri?“ Ohne innezuhalten nickte der geriatrische Journalist, fand die gesuchte Kiste und begann sofort an seinem Chronometer zu werkeln. „Ja bist du wahnsinnig geworden?“ Jetzt wurde der Seniorin auch bang um die geistige Gesundheit ihres Gatten. Seine Idee, Leander Löri zu beschuldigen, vermeintlich krebserregendes Zeugs auf die Dorfbevölkerung loszulassen, war hirnverbrannt.
„Natürlich. Ich habe ihn vorhin angerufen“, bestätigte H. Heinrich Häberli seine antike Uhr umschnallend. „Wir treffen uns um halb eins im Löwen.“
„Heini, lass das. Wenn du den Leander Löri wütend machst, ist es aus mit dem Gurmeler Boten.“ Egal wie oft ihr Mann hervorhob, dass die Existenz seiner Zeitung alleinig seinem Einsatz, seinem Herzblut geschuldet war, so war beiden Eheleuten klar, der Gurmeler Bote wäre ohne die finanzielle Unterstützung Leander Löris ruckzuck weg von den lokalen Kioskständen.
Da kam H. Heinrich Häberli zum Stillstand, eine Weile starrte er auf den abgetretenen Teppich, dann ließ er den Blick über sein heimisches Büro des Chefredaktors schweifen, seufzte und stellte fest: „Mag sein, Rietti, mag sein.“ Traurigkeit zog über sein Gesicht, es blieb still, bis H. Heinrich Häberli tief grunzte, in die Hände klatschte und nach seinem Mantel griff. „Ich bin verpflichtet jeder Spur zu folgen und meine eigenen Motive in den Hintergrund zu drängen. Ich bin Journalist“, proklamierte er mit fester Stimme. „Ich bin keiner dieser modernen Wackelwichte, die Recherche und Ethos für passé halten, sondern ein waschechter Journalist. Und als solcher bin ich bereit mich im Namen der Wahrheit zu opfern.“ Damit machte sich H. Heinrich Häberli auf zum Treffen im Löwen. Die Tür fiel ins Schloss und indes plante H. Henrietta Häberli die nächste Thunfischmahlzeit.