Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
„Hey, Sami!“ Kays Stimme wurde vom Chaos verschluckt, kaum ein freier Kubikmeter Luft war in der Wohnung ihrer heutigen Klientin übriggeblieben.
„Hm? Hast du gerufen?“, brüllte der Mittvierziger und drängte sich ächzend zwischen zwei überfüllten Kommoden hindurch, um zu den bis zur Decke gestapelten Kartons zu gelangen. „Au!“, fluchte er, als er gegen ein Regal stieß und ihm ein IKEA-Sack voller Dreckwäsche entgegenpurzelte. „Kay, wo steckst du?“
„Ich bin wieder bei den Katzen.“ Es war, wie man so schön sagte, nicht ihr erstes Rodeo. Beide hatten bereits schlimmer zugemüllte Behausungen gesehen, auch wenn das in Anbetracht ihres derzeitigen Arbeitsplatzes nur schwer vorstellbar war. An den Anblick von toten Haustieren würden sie sich allerdings nie gewöhnen. Sie hatte es gutgemeint, die freundliche Frau, die vor einigen Tagen unter ihrem angehäuften Ramsch verstorben war. Vermutlich hatte alles mit einer Katze begonnen, einem Freund, der ihr Gesellschaft leistete, so war es meistens. Zum ersten Gefährten gesellten sich bald mehr und mehr Streuner, Kitten, die niemand haben wollte und bei ihr erst Unterschlupf, dann den Tod durch Vernachlässigung gefunden hatten. „Ich befürchte, wir brauchen den Kratzer. Mit der Schaufel komm’ ich nicht drunter“, berichtete Kay, keuchte und schlug vor, erstmal eine kurze Verschnaufpause einzulegen. „Ich würd’ gerne eine rauchen, die vertrockneten Viecher schaffen mich.“
„Klar, mach du das“, erwiderte Sami, drehte sich vorsichtig um, atmete trotz des üblen Miefs tief durch und klönte dann: „Bin dabei, sonst verhungere ich.“
Es hatte beinahe zehn Minuten gedauert, bis die Männer sich einen Weg hinaus auf den Hinterhof gebahnt hatten. Anders als in der letzten Bude, die sieentrümpelt hatten, gab es hier Trampelpfade von Zimmer zu Zimmer. Außer dem großen Bad waren sogar sämtliche Räume einigermaßen zugänglich; keine Selbstverständlichkeit in ihrem Tätigkeitsfeld.
„Willst’e ’n Brötchen?“, fragte Sami und schlenderte zum Van, wo er seine Tasche vom Rücksitz schnappte. „Hab eins mit Käse und eins mit so ’nem vegetarischen Aufschnitt.“
„Gern. Käse.“ Kay nahm das Sandwich entgegen, pulte die Alufolie sorgfältig ab, faltete sie zusammen und reichte sie seinem Chef, damit er die Verpackung wiederverwenden konnte. Sami war ein guter Kerl, und zwar nicht einer von denen, die das bei jeder Gelegenheit betonen mussten, er war einfach und aufrichtig ein netter Typ. „Danke dir, Sami.“
„Kein Problem, Junge. Wer hart malocht, soll was zu beißen bekommen.“ Auch das war keine leere Aussage, denn obwohl es für seine kleine Spezialreinigungsfirma nicht immer Aufträge gab, die Lage gerade nicht besonders rosig aussah, bezahlte und behandelte er Kay ordentlich. „Glaubst du, wir schaffen den Flur heute noch?“
„Ich würd‘ behaupten, ja“, nuschelte der Abiturient mit halbvollem Mund. „Die Garderobe ist sowieso schon draußen, bleiben bloß die zwei Einbauschränke und die Tüten auf der Hutablage.“ Zugegebenermaßen war er von seinem Nebenjob anfänglich wenig begeistert gewesen und bei seinem ersten Einsatz hatte er sich gleich viermal übergeben müssten. Doch mittlerweile hatte er seine Arbeit zu schätzen gelernt. Sami hatte ihm erklärt, es gäbe tausend Gründe, weshalb jemand verloren in einem Messi-Haushalt endete, und auch wenn es verlockend war, darüber zu spekulieren, war es nicht ihre Aufgabe. Nein, wenn sie zu Hilfe geholt wurden, befand sich ein Mensch in Not und sie waren da, um wenigstens die sichtbare Last zu entsorgen.
„Hast du die Post-Its?“, schrie Kay durch die Vierzimmerwohnung. „Ich hab’ da was!“
„Ja, Moment.“ Sami war eben dabei, einen übervollen Müllbeutel zuzubinden, was mit den dicken Gummihandschuhen stets eine leidige Friemelei war. „Was ist es?“
„So ’ne Designertasche“, antwortete der Jüngere erfreut. „Sie liegt noch in der Schachtel. Ungebraucht.“
„Oha.“ Mit einem angestrengten Grunzen schleppte Sami das Gebinde in Richtung des Eingangs, stellte ihn schließlich neben die anderen Kehrichtsäcke und zuppelte sich die Handschuhe von den Fingern. Er schwitzte unter der Schutzmaske, aber immerhin überdeckte der Geruch von veganem Aufschnitt den Verwesungsgestank ein bisschen. „Fang auf“, meinte er, warf einen Block bunter Haftnotizen zu Kay, bevor er sich ausgiebig streckte. Einige ihrer Klienten kehrten nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie in ihr Heim zurück, dafür waren die gelben Zettel, mit denen sie Dinge markierten, die die sentimentalen Wert für die Bewohner haben könnten. Mit den roten kennzeichneten sie alles, das eventuell wertvoll war und die blauen brauchten sie für Gegenstände, nach denen Angehörige oder Vermieter gefragt hatten. „Hätte hier drin kein Modezeugs erwartet“, brummte Sami verwundert und begutachtete den Fund. „Schick.“
„Jup. Schaut teuer aus.“ Dieses Mal waren sie nicht von Verwandten, sondern von der für die Liegenschaft zuständigen Immobilienfirma angeheuert worden, die ihnen erlaubte, gefundene Schätze zu behalten. „Ein rotes dafür.“
Der Feierabend kam näher, sie hatten die für heute geplanten Ecken von Krimskrams und vom gröbsten Unrat befreit. Während Sami einen letzten Kontrollgang durch die Wohnung machte, bevor sie abschlossen, wartete Kay beim Durchgang zum Schlafzimmer. Er wusste es besser, dennoch konnte er es nicht lassen und lugte hinein, versuchte die Kadaver zu ignorieren und da entdeckte er hinter einem Berg aus Zeitschriften, Katzenstreubeuteln einer zerfledderten, fleckigen Matratze, eine weitere Tür, die ihm vorhin nicht aufgefallen war. Neugierig manövrierte er sich mit kleinen Schritten durch den Raum, quetschte sich zwischen den überflüssig gewordenen Habseligkeiten der Verstorbenen hindurch und drückte die Klinke. Da sah er sie. Nie zuvor war ihm etwas derart Schönes untergekommen! Originalverpackt und fein säuberlich sortiert, aufgereiht in Glasvitrinen, standen unzählige Comichefte, Figurinen und eine Modelleisenbahn. „Sami!“, kreischte Kay aufgebracht. „Sami! Wir brauchen mehr Haftnotizen!“