Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Man hat seine Traditionen. Ich beispielsweise entwickelte im Laufe meines Lebens die Angewohnheit, Halloween mit jeder Iteration ein bisschen detailgetreuer zu feiern. Angefangen hat es vor zwanzig Jahren, als ich zum ersten Mal durch die typisch-amerikanische Vorstadt getingelt bin, verkleidet als Graf Dracula an Türen geklingelt und Süßes verlangt sowie mit Saurem gedroht habe. Herrje, dabei hatte ich keine Ahnung, was Saures war und begnügte mich mit Kinderkram wie faule Eier und Klopapier zu werfen. Lachhaft gegen die Möglichkeiten, die sich einer erwachsenen Person mit dem Einkommen eines, in der Forschung eines großen Pharmakonzerns angestellten, Biologen bieten. Ein weiterer Anfängerfehler, den ich damals mangels besseren Wissens und der nötigen Ressourcen gemacht habe, ist das Außerachtlassen taktischer Überlegungen. Wer wahrhaft Saures austeilen will, bereitet sich minutiös vor, achtet auf seinen Standort, schlägt aus dem Hinterhalt zu und kennt das Terrain bis in den hintersten Winkel. Die ersten Nichtsahnenden wagen sich in der hereinbrechenden Dunkelheit auf die Maple Road und lenken mich kurz ab. Von meiner sicheren Stellung im Erkerfenster des Einfamilienhäuschens mit der zufälligerweise passenden Nummer Dreizehn, beobachte ich das Treiben unter mir, ein vorfreudiges Kribbeln in den Fingern, die Popcorntüte zur Hand. Hach, das wird ein Spaß!
Ich habe ganz vergessen, worüber ich vorhin nachgedacht habe. Ach ja, die ersten Schritte auf dem Weg zum Halloweenprofi. In der frühen Jugend verfeinerte ich meine Strategie als Angreifer, in meiner Freizeit studierte ich die Vorgehensweisen von Guerillas und schaute jeden Horrorfilm, den ich finden konnte. Leider hat die Süßigkeitenausbeute trotzdem nie einen Umfang erreicht, der dem Effort würdig gewesen wäre. Als ich in die High School kam, blühte ich auf. Dank Karateunterricht erweiterte ich meine Kampferfahrungen und kapierte, was hinter der Guerillataktik steckte: Wieso die befestigten Stellungen angreifen, wenn man die Angreifer überrumpeln kann? Ja, ich, der brave Biologiestudent, haute während der Nacht vor Allerheiligen so richtig auf den Putz und weil ich im Kostüm steckte, hatte ich keine Konsequenzen zu befürchten. Saures auszuteilen wurde für mich zum Zuckerschlecken, als nähme ich Kindern Süßigkeiten weg (sprich- sowie wortwörtlich). Allerdings wurde es mir rasch langweilig, meine Karatekünste an kostümierten Rotzbengeln zu erproben. Es erging mir wie bei Videospielen, bei denen man irgendwann nicht bloß Welle um Welle hirnloser Zombies heruntermetzeln will, sondern nach echten Herausforderungen sucht. Ich brauchte einen Boss-Fight, weswegen ich größere Vorhaben in die Tat umsetzte, wie den Farbbomben-Kürbis mit Annäherungssensor.
Wieder holen mich die auf der Straße herumschlendernden Kinder in die Gegenwart zurück, sie haben angefangen, an Türen zu klingeln. Bald ist es so weit, freue ich mich. Dies ist nun endlich Halloween für Fortgeschrittene, Schluss mit dem Anfängerkram, heute wird die Nacht der Toten gebührend als solche gefeiert. „Back to the roots“, wie man zu sagen pflegt. Ein Blick auf die Armbanduhr verrät, dass es in wenigen Minuten losgeht. Gerade genug Zeit, abermals meine Halloween-Dekoration zu bewundern und zufrieden festzustellen, wie sehr ich mich selbst übertroffen habe. Das ganze Jahr feilte ich an meinen Plänen, damit dieser Lieblingsfeiertag perfekt wird. Jedes Detail in meinem Spukhaus ist echt: Die Skelette habe ich vom Friedhof ausgeliehen, die Gespenster im Baum aus menschlicher Haut gebastelt und sogar die Zombiehorde im Keller habe ich mit einem selbst hergestellten Virus erschaffen. Es war zwar mühsam, unbemerkt mehrere Dutzend unfreiwillige Probanden zusammenzubekommen, ohne, dass mir die Polizei auf die Schliche kam, aber am Ende war es die Sache wert. Bislang war jeder moderne All Saint’s Eve bestenfalls eine Farce, ohne Gefahren und, schlimmer noch, ohne echte Tote. Heute hingegen soll es anders werden, denn heute geht es nicht um Kostüme und Süßigkeiten, vielmehr um die Wiederkehr der Verstorbenen als Monster, um reale Grauen und um Schrecken. Der Timer erreicht Null, meine Armbanduhr piepst, das Schloss an meiner Kellertür springt auf und all die anderen kleinen Spielereien, die ich im Quartier versteckte, werden aktiviert.
Genüsslich sitze ich auf einem extra für dieses Schauspiel bereitgestellten Lehnsessel, knabbere Popcorn und lausche dazu Rachmaninows epischer Musik auf meiner Stereoanlage, als das erste richtige Halloween seinen Lauf nimmt. Alles beginnt relativ unspektakulär mit den Senfgasbomben in Mrs. Barkers Hecke, die ein paar Spaziergänger erwischen. Mir bleibt kaum Zeit, die Auswirkungen dieses köstlichen Streiches zu genießen, da tritt schon eine Kinderschar auf die scharfen Landminen in Mr. Morgans Garten. Ja, heute gibt’s Saures, denke mich mir glucksend, als Körper (oder sind es Körperteile?) durch die Luft fliegen. Herbeieilende Helfer übersehen den Stolperdraht, der zwischen zwei geparkten Autos gespannt ist, indes tut ein Häuserblock weiter das Sarin-Gas zweifelsohne seine Wirkung. Sirenen erklingen in der Ferne und da, endlich, kommen wir zum Finale: Die Zombies straucheln in den Vorgarten und machen sich über die Gaffer her. Zähne werden in Fleisch gegraben, panische Schreie übertönen die Musik, Blut verfärbt die Maple Road und Menschen rennen wie aufgescheuchte Ameisen umher, wobei sie auf herausgerissenen Gedärmen ausrutschen. Stolz erfüllt mich beim Betrachten meiner Arbeit, nein, meines Meisterwerks, ganz im Sinne dieses alten Feiertages. Natürlich, das Zombievirus könnte sich ausbreiten und die Welt wie wir sie kennen vernichten, und selbst wenn nicht, werde ich den Rest meiner Tage im Gefängnis verbringen, doch wer Großes leisten will, muss bereit sein, Opfer zu bringen.