Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Jeff grunzte genervt, als er mühselig unter die kleine Brücke kroch, über die das schmale Gleis führte. „Welcher Vollidiot hat denn eine Packung Studentenfutter da runtergeworfen?“, murrte er und fischte den Müll aus dem Höllenfluss. Die falsche Lava, die wegen Chemikalien, deren Namen er nicht einmal aussprechen konnte, immer unglaublich dampfte, floss im Moment nicht und so war es ihm ein Leichtes, alle Abfälle aufzusammeln. „Einfach unglaublich“, grummelte er, „was die Deppen alles wegwerfen.“
„Hast du was gesagt?“, rief Karen mit ihrer rauen Stimme irgendwo hinter den schaurigen Kulissen und Skeletten, die im Halbdunkeln verschwanden, hervor. Jeff stand umständlich auf und zeterte durch die halbe Geisterbahn zurück: „Diese Scheißteenies und ihr Abfall!“
„Sag nichts“, gab seine Kollegin zurück, verstummte dann aber wieder. Jeff zuckte mit den Schultern und zog den Walkman aus der Hosentasche, der mit ihm schon mehr als zweieinhalb Jahrzehnte überlebt hatte. Nein, von den neuen i-Dingern, oder wie auch immer sie schon wieder hießen, hielt er nicht besonders viel. Er prüfte rasch nach, ob sein liebstes Mixtape in dem Gerät war und drückte dann auf „Play“. Zu den Klängen von dem AC-DC-Klassiker „Highway to Hell“ pfeifend schritt er weiter das Gleis ab, wie ein unermüdlicher Bahnwärter, der Schwelle für Schwelle, Niete für Niete prüfen musste. In weniger als einer Stunde würde die Geisterbahn aufmachen und die erste Ladung schreiender Teenager und Familien durch das Universum des Schreckes befördern. Es war Halloween und Jeff wusste genau, was das bedeutet: Noch mehr Chaos, Betrunkene und Geschrei, eine Nacht, in der man einfach mit allem rechnen musste. Denn auch wenn aus seiner Sicht die durchschnittlichen Kunden des Horror-Parks an Einfallslosigkeit nicht zu überbieten waren, so waren sie doch Meister darin, Verwirrung zu stiften und ein Gefühl der Anarchie verbunden mit komischen Gerüchen zu hinterlassen.
Weiter ging Jeffs Reise, in die Katakomben und Höhlen mit den Särgen, Mumien und Gespenstern. Er erschrak längst nicht mehr, wenn die in rot beleuchteten Nebelschwaden gehüllten Gestalten auftauchten, das Flackern hinter den Leintüchern zu sehen war oder das hämische Lachen über die Lautsprecher erklang – viel zu lange war er bereits hier, man hätte schon fast sagen können, dass er sein halbes Leben hier verbracht hatte. Gerade, als er begriff, dass er bald fertig wäre, explodierte seine Welt in Schmerzen, helle Blitze und schwarze Punkte zuckten vor seinen Augen und er kippte bewusstlos hintenüber.
„Wir hatten einen Deal“, konnte Jeff die drohende, tiefe Stimme eines Mannes hören, als er aufwachte. Verwirrt sah er sich um und bemerkte, dass er von dem Gleis der Geisterbahn heruntergefallen und in einer dunkeln, tiefen Schlucht, einer Öffnung im Boden, die ins Kellergeschoß führte, gelandet war. Er lag auf dem Rücken und realisierte erst nach und nach, dass sein linkes Bein schmerzte, während die verwirrend wirkende Welt um ihn herum sich langsam zu klären begann. Über ihm waren panische Schreie und Gerumpel zu hören und irgendwo neben ihm erklang aus der Dunkelheit wieder die unbekannte, gruselige Stimme: „Ich habe meinen Teil der Abmachung eingehalten, jetzt bist du dran.“
Jeff brauchte einen Augenblick bis er verstand, dass der Fremde nicht mit ihm sprach, sondern tatsächlich in dem angrenzenden Kellerraum sein musste. „Du weißt, was ich will.“
Für einen Moment herrschte Schweigen, während sich Jeff fragte, wer sich da mit wem unterhielt, bevor ihn der stechende Schmerz in seinem Bein wieder aus seinen Gedanken riss. Etwas ratterte über die Metallkonstruktion über ihm und er blickte hoch, nur um zu erkennen, dass ein Zug voller schreiender Menschen über die Brücke fuhr – offenbar hatte der Park schon aufgemacht, er musste eine ganze Weile hier unten gelegen haben. In einem ängstlichen Tonfall erwiderte ein anderer Mann: „Du weißt, dass ihr Krankheitsverlauf nicht besonders gut war, sie lebt nicht mehr und ich habe all mein Geld dafür ausgegeben, ihr zu helfen.“
„Und mein Geld“, entgegnete der einschüchternde Unbekannte und Jeff begriff in dem Moment, dass die Situation alles andere als gut zu sein schien. „Du hattest deine Chance.“
Er versuchte aufzustehen, stöhnte aber stattdessen auf und knickte weg, als er sein verwundetes Bein belasten wollte. Ein dumpfer Knall war zu hören, dann herrschte wieder Ruhe.
Eine Woche war seit Jeffs Unfall vergangen und er humpelte noch leicht, als er das erste Mal seit Halloween die Gleise der Geisterbahn abschritt. Es hatte etwas gedauert, bis er aus der Schlucht herausgekommen war, doch dann hatte sich sofort ein Arzt um ihn gekümmert. Dieser hatte ihm auch gesagt, dass er sich wohl auf der Brücke den Kopf an einem Ausleger gestoßen haben musste, bevor er heruntergefallen war. Doch trotz seiner Aussage wollten die Polizisten nichts über den angeblichen Mord wissen, den er belauscht zu haben glaubte, denn sie hatten den ganzen Keller durchsucht und nichts finden können. Übellaunig schritt er nun seine Strecke ab, sammelte leere Coladosen auf und fragte sich, ob ihm sein Verstand tatsächlich einen Streich gespielt haben mochte, wie der Mediziner vermutet hatte. Immerhin hatte er sich ziemlich übel den Kopf gestoßen, überlegte er, während er in Richtung der Katakomben ging und sich wie immer wünschte, dass bald Feierabend war. Als er eine lose Schraube am Gleis erkennen konnte, bückte er sich herunter und nahm das Reserveteil aus seiner Tasche, bevor er damit begann, das alte Ding zu ersetzen – nicht, dass am Ende noch die Bahn entgleisen würde. Während er konzentriert arbeitete, ließ ihn der Gedanke daran nicht los, dass er vielleicht doch Zeuge von etwas wirklich Schlimmen gewesen war. Doch er würde es nicht beweisen können und früher oder später würde seine Überzeugung, dass er diese Unterhaltung wirklich gehört hatte, zu bröckeln beginnen und seine Zweifel überhand nehmen. Wie auch immer, das Leben ging weiter und seine Unsicherheit hatte darauf keinen Einfluss.
Er hielt in seiner Bewegung inne, sah auf und starrte angestrengt auf die Szene vor ihm – irgendwas stimmte nicht. Er kannte die ganze Bahn und ihre Dekoration wie seine Westentasche, doch hier war etwas ganz und gar nicht in Ordnung. „Welcher Idiot hat denn die neue Mumie aus dem Lager geholt?“, murmelte er, während er durch den Dampf der Nebelmaschine ins Halbdunkel humpelte, um sich den Patzer seiner Kollegen anzusehen. „War sicher wieder Karen, die will ständig alles neu dekorieren“, fügte er hinzu, bevor er bei der Mumie anlangte. Seufzend griff er sie an sie an einem Arm und zog daran, um sie aus der Wandnische zu zerren. Mit einem lauten und ungewohnt schweren Klatschen fiel sie zu Boden und Jeff erstarrte, als er begriff, dass er sich in der Nacht, in der die Geister herauskamen, nicht getäuscht hatte.