Halte dich fern von Hangar Dreiundsechzig! Jedes Kind auf dem Stützpunkt kannte diese Warnung, sogar Roy, dessen Familie vor wenigen Tagen hierhingezogen war, war sie bekannt. Hangar Dreiundsechzig ist tabu!
„Irgendwelche missglückten Experimente“, mutmaßte Adil wenig einfallsreich den Inhalt des verbotenen Hangars. Er war der jüngste der kleinen Gruppe und ebenfalls der einzige, der sein ganzes Leben auf dieser Militärbasis verbracht hatte. Für ihn war die Naval Support Facility Diego Garcia die Heimat, für alle anderen lediglich ein weiterer Zwischenstopp, eine kurze Verschnaufpause vor der nächsten Versetzung ihrer Eltern.
„Quatsch, als wäre das ein lahmer Verschwörungsroman“, gab Mina schnippisch zurück. Sie war letzte Woche dreizehn geworden und hatte bislang keinen einzigen Verschwörungsroman gelesen, den Vergleich fand sie trotzdem passend und zudem gefielen ihr Trayvons bewundernde Blicke, wenn sie über Bücher oder sonstiges, kluges Zeug redete. „Vielleicht eine Geistergeschichte.“
„Blödsinn, jeder weiß, die …“ Roy versicherte sich erst, dass keiner der Erwachsenen in Hörweite war, bevor er im Flüsterton fortfuhr: „die bunkern dort heimlich Aliens.“ Mina, Adil und Trayvon schwiegen eine Weile, dann nickte das Mädchen mit ernster Miene und meinte: „Möglich, Aliens gibt es nämlich.“
Adil empörte sich. „Mir hältst du vor, an Verschwörungen zu glauben, aber Aliens sollen echt sein?“ So ausgeprägt wie seine Vorwitzigkeit im zarten Alter von acht Jahren war, dürfte sich seine Mutter auf turbulente Jugendzeiten einstellen. Mina verdrehte entnervt die Augen. Der dunkelhaarige Junge war ihr seit ihrer Ankunft zuwider, unentwegt legte er sich mit ihr an und drängte sich zu allem Übel auch noch zwischen sie und Trayvon.
„Ach, sei still“, befahl sie Adil, ohne Hoffnung, ihre Erziehungsmaßnahmen könnten fruchten. Bevor der Jüngste darauf reagieren konnte, meldete sich Trayvon zu Wort: „Raten ist zwecklos. Was auch immer im Hangar Dreiundsechzig steckt, durch Rumstehen und Rätseln finden wir es bestimmt nicht heraus.“
„Moment mal!“ Roy klang aufgeregt. „Heißt das, du willst dich reinschleichen?“
„Was sollen wir denn sonst tun?“
„Ja! Wir sind wie die Scooby-Gang!“ Adil entwich ein Freudenjauchzer, seit jeher hatte er davon geträumt, dem Geheimnis um Hangar Dreiundsechzig nachzugehen, allerdings fehlten ihm bisher Freunde dazu, die seinen schmächtigen Körper über die Absperrungen hieven konnten.
„Nicht so laut!“, schimpfte Mina, leider zu spät, die Lehrerin marschierte bereits in ihre Richtung.
Adil tauchte als letzter beim Treffpunkt auf. Er trug eine leuchtend gelbe Regenjacke, grüne Cordhosen, rote Turnschuhe und rief den anderen von weitem fröhlich zu. Wieder verdrehte Mina die Augen, dieses Mal unterstützte sie ihre Geste mit einem heiseren Brummen. „Du siehst aus wie ein Papagei“, stellte Roy mehr verwirrt als erbost fest.
„Wieso?“ Adil sah an sich herunter, ohne etwas Auffälliges festzustellen.
„Deine Jacke ist quietschgelb!“, fuhr ihn das Mädchen an und schubste ihn gegens Schlüsselbein. „Ein Wunder, dass du nicht mit einem Blinklicht hier auftauchst. Also echt!“ Trayvon kicherte verhalten, was ihm ein böses Funkeln von Mina einhandelte. Sie mochte ein wenig in den Vierzehnjährigen verschossen sein, dummes Gekicher in einer ernsten Lage ließe sie ihm dennoch nicht ungestraft durchgehen, da kam sie ganz nach ihrem Vater.
„Okay“, seufzte Roy, dessen Gesicht mehrheitlich von einer dunklen Kapuze verdeckt wurde. „Was jetzt?“ Adil kritisch beäugend, standen sie vor Hangar achtundfünfzig und zermarterten sich unter dem dunklen Himmelszelt die Köpfe, bis Trayvon schließlich sagte: „Zieh dich aus.“
„Was?! Niemals!“ Erschrocken taumelte der Jüngste einige Schritte zurück und zog den Reißverschluss seiner Jacke bis unters Kinn.
„Pah, woher die plötzliche Unsicherheit, Kleiner?“, spottete Mina, hocherfreut über die Gelegenheit, den Quälgeist ärgern zu können.
„Lass mich, du blöde Kuh!“, zeterte der Angesprochene. „Ich ziehe mich nicht aus!“
Trayvon zuckte mit den Schultern. „Dann bleibst du eben hier.“ Mina stimmte sofort zu, Roy hingegen zögerte. So einen wie Adil gab es eigentlich auf jeder Basis, ein Großmaul das im Prinzip nichts anderes wollte, als Freunde, die mehr als einige Monate blieben.
„Adil, wirf dir meinen Pulli über.“ Hastig entledigte sich Roy des anthrazitfarbenen Kleidungsstücks und reichte es Trayvon, welcher es an Adil weitergab. Das Gelb der Jacke lugte zwar hervor, aber wenigstens leuchtete der Jüngste nicht mehr im Dunkeln. „Sind alle zufrieden?“ Roys Frage war rhetorisch, ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich zum Gehen.
„Aua!“ Mina hatte sich den Ellenbogen am Fensterrahmen geschlagen, begann zu zappeln und kickte dabei Trayvon gegen die Brust, der mit großer Mühe versuchte, die Dreizehnjährige an der Außenmauer entlang hochzuschieben. „‘Tschuldige.“
„n Fakultät über k Fakultät ergibt n mal Klammer n minus …“ Trayvons Murmeln wurde stetig leiser, verzerrte sich zu einem rhythmischen Summen.
„Was schwafelst du da?“, wollte Roy wissen, als Mina ihre Knie emporzog und auf den Sims des schmalen Fensters kletterte.
„Permutation mit Wiederholung“, erwiderte der Angesprochene. „Körperliche Anstrengung lässt sich am besten durchhalten, wenn man den Kopf mit anderen Dingen beschäftigt“, erklärte er weiter. „Mathematik funktioniert sehr gut, nur so als Tipp am Rande.“
„Aha“, machten Roy und Adil unisono und Mina entrüstete sich: „Körperliche Anstrengung? Willst du behaupten, ich bin fett?!“ Der Vierzehnjährige stockte, schluckte einen bösen Kommentar hinunter und verneinte dann in einem Tonfall, der zu laut für ein Flüstern, zu krächzend für ein Rufen ist. „Von wegen“, zischte sie. Mina saß eingeklemmt im Aluminiumrahmen und verlor zusehends die Geduld mit ihren Stützpunktkammeraden.
„Naja, eine Fastendiät mit Suppe und Saft könnte dir nich…“
„Adil!“, rügte Roy den Jüngsten schroff, bevor er Mina anflehte, sich endlich zu beeilen.
„Jungs“, holte sie kleinlaut und sich beschämt auf die Hände schauend aus. „Ich hab nun doch etwas Angst.“
„Ach, was kann schon passieren?“ Trayvons Stimme war fest, strotze vor Selbstsicherheit. „Und wenn jemand kommt, werde ohnehin ich erschossen und nicht das weiße Mädchen. Also, mach vorwärts!“ Dem hatte Mina nichts entgegenzusetzen, also drehte sie sich im engen Fensterrahmen um und begann die Strickleiter festzuknüpfen, währen Roy seinem neuen Freund auf die Schulter klopfte.
„Ooo-kay“, durchbrach Mina nach einiger Zeit das Schweigen. Das Mädchen klang so, wie alle sich fühlten: Verdutzt. „Damit habe ich nicht gerechnet.“ Die beiden größeren Jungs pflichteten ihr bei, Adil hingegen schien die anderen ausgeblendet zu haben und reckte seinen Hals weit nach vorne. Die vier standen in einer vollkommen leeren Halle, umgeben von einigen Stahlträgern, zentimeterdickem Staub, in welchem winzige Klauenabdrücke von Kakerlaken zu erkennen waren, um ein Loch versammelt. Das Wort „Loch“ war durchaus passend, denn mitten im Hangar Dreiundsechzig klaffte ein kreisrunder Graben, etwa vier Meter im Durchmesser, der aussah, als wäre er mit einer überdimensionalen Plätzchenstechform in den Betonboden gestanzt worden.
„Jup, das ist wirklich überraschend“, merkte Roy an und packte den Kleinsten aus Angst, er könnte herunterfallen beim Kragen. „Was da unten wohl ist …“
„Vermutlich keine Aliens“, gab Trayvon mit einem Seitenblick auf Roy zu bedenken. „Eventuell eine Kernbohrung?“
„Ohne Geräte und Maschinen?“, zweifelte Mina.
„Stimmt, da müssten große Bohrmaschinen rumstehen, wenigstens einige Befestigungen oder sowas in der Art.“ Nachdem er sicher war, dass Trayvon Adil im Griff hatte, reckte nun auch Roy seinen Kopf über den Abgrund. „Wie tief es wohl ist?“
„Finden wir es heraus“, verkündete Trayvon und kramte eine Münze aus einer der Taschen seiner Cargohose. „Wir zählen die Sekunden bis zum Aufprall.“
„Du bist ein Schlaumeier, was?“, lachte Roy.
„Er ist die Daphne unserer Scooby-Gang.“ Adil stupste Trayvon breit grinsend in die Flanke. „Mina ist Velma, Roy ist Fred und ich bin Shaggy.“
„Du meintest wohl eher, du bist Scooby“, murrte die Dreizehnjährige.
„Hört auf zu streiten! Daphne“, sagte Roy an Trayvon gewandt. „Ich habe eine Stoppuhr. Ich zähle bis drei, dann wirfst du. Eins. Zwei. Drei!“ Exakt auf die Drei war ein metallisch-schnippendes Geräusch zu vernehmen. Roy starrte gebannt auf die grellgrünen Ziffern seiner Armbanduhr, die anderen schauten ebenso gebannt in die Schwärze des Abgrunds.