Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.
Tag 1:
Heute haben sie mich vom Hospiz hierhin verlegt und mich gleich in eine kleine Kammer geführt, wo meine wenigen Habseligkeiten in einem grauen Schrank verstaut wurden. Ich weiß nicht, wo genau man mich hingebracht hat, geschweige denn, wie lange ich hierbleiben muss und alle scheinen mir nur sehr vage, oder gar keine Auskunft geben zu wollen. Das Ganze macht einfach keinen Sinn, niemand scheint so richtig zu wissen, was man mir sagen darf und was nicht, einige behaupten sogar, ich solle meinen Aufenthalt hier als Urlaub betrachten. Doch trotz den Ungereimtheiten gefällt es mir hier bislang besser als im trostlosen Hospiz, sogar einen Fernseher haben sie in mein Zimmer gestellt und zumindest im Moment bin ich einfach nur froh, dass die Gerüchte über die Strafgefangenenlager nicht zu stimmen scheinen.
Ich frage mich nur, wann ich Margrit endlich wiedersehen darf. Ich wünschte, ich wüsste wo sie ist und ob es ihr gut geht. Ich bete jeden Abend dafür, dass sie sie nicht mitgenommen haben, dass sie zuhause in Sicherheit ist und auf mich wartet.
Tag 2:
Heute waren vier verschiedene Frauen bei mir, eine davon sogar mehrmals. Sie waren alle außerordentlich freundlich und haben mir Essen gebracht, mich im Gebäude rumgeführt und mir erklärt, wo ich mich überall aufhalten darf. Es erstaunt mich wirklich sehr, dass ich mich hier so frei bewegen darf und hatte mir die Strafanstalt überhaupt komplett anders vorgestellt. Es gibt sogar einen kleine Außenbereich, den wir tagsüber benutzen dürfen und einen Aufenthaltsraum, der außerordentlich hell und gemütlich eingerichtet ist.
Natürlich freue ich mich sehr darüber, habe ich mir im Hospiz solche Sorgen gemacht, aber gleichzeitig macht mich das Ganze dann doch sehr skeptisch. Wenn ich mir die Institution ansehe, so wie ich das heute den ganzen Tag über gemacht habe, kann ich deren Annehmlichkeiten nur damit erklären, dass sie für privilegierte Gefangene konzipiert worden war. Doch komme ich einfach nicht darauf, weshalb ausgerechnet ich, ein einfacher Lehrer, zu diesem illustren Kreis gehören sollte.
Morgen werde ich erneut versuchen, mit einer der Wärterinnen zu sprechen, vielleicht können mir auch die anderen Gefangenen weiterhelfen, aber das Licht geht gleich aus und meine letzten Gedanken sind wie immer bei Margrit, für deren Wohlergehen ich Gott um Gnade anflehe.
Tag 3:
Heute wurde ich zum Mittagessen in einen großen Saal geführt, wo man mich mit drei alten Herren an einen Tisch gesetzt hatte. Ich hatte gehofft, ich würde im Gespräch etwas über den Ort hier erfahren, aber die drei schienen dermaßen verwirrt, dass es mir schwer fiel, überhaupt ihre Namen zu erfahren. Karl, ein Hüne von einem Mann, war der einzige, der überhaupt sprach, die anderen beiden, Gottlieb und Anton, saßen einfach nur da und schienen ins Leere zu starren. Doch auch wenn Karl unentwegt von seinem Bauernhof erzählte und im Detail erklärte, wie man ausgetrockneten Boden am besten zerfurchen konnte, gab er mir keine Antwort auf meine Fragen. Entweder er wusste genau so wenig wie ich, oder aber es war ihm untersagt, sich mit mir darüber zu unterhalten.
Den Rest des Tages habe ich in meinem Zimmer zugebracht und gelesen. Es fällt mir schwer, dies zuzugeben, aber nach den Erlebnissen der letzten Monate scheint es mir einfach nicht mehr möglich zu sein, meinen unerschütterlichen Frohmut beizubehalten, erst recht nicht ohne die Gesellschaft von Margrit, die mich in solchen Situationen immer gestärkt hat. Ich werde mich jetzt schlafen legen und zuvor für ihre reine Seele beten.
Tag 4:
Heute saß ich wieder mit Karl und den anderen am Tisch, dieses Mal waren blieb jedoch auch Karl stumm und als ich in seine glasigen Augen gesehen habe, konnte ich nicht umhin, Verdacht zu schöpfen. Irgendetwas stimmt einfach nicht, das war mir gestern schon aufgefallen, nur hatte ich mich da noch gegen die Erkenntnis gewehrt. Ich vermute, dass sie uns heimlich Drogen verabreichen. Wie sonst ist es zu erklären, dass alle Insaßen verwirrt, teilweise sogar so desorientiert wirken, dass sie stundenlang ziellos die Gänge auf und ab wandern? Also habe ich beschlossen, vorsichtshalber erst einmal nichts zu essen, woraufhin eine der Wärterinnen mich mehrmals dazu aufgefordert hatte. Meine Verweigerung wurde aber schlussendlich missbilligend hingenommen, zumindest vorläufig.
Meine bisher vorherrschende Freude darüber, dass meine Strafe für die Mithilfe zu Isaaks Flucht nicht so schrecklich ausgefallen war, wie ich befürchtet hatte, verfliegt immer mehr. Zu viele Fragen bleiben offen und es scheint niemanden zu geben, der sie beantworten will oder darf. Vielleicht finde ich in den nächsten Tagen heraus, ob es trotzdem Wärter gibt, die mit mir sprechen würden, ich muss aber dringend beachten, dass ich niemanden auf mich aufmerksam mache und vorerst bleiben.
Sie haben das Licht ausgeschaltet und ich gehe jetzt zu Bett, um von meiner Margrit zu träumen. Gott möge sie schützen.
Tag 5:
Heute Früh habe ich durch das Fenster gesehen, wie ein schwarzer Wagen vorgefahren ist und kurz darauf haben sie einen Sarg eingeladen. Beim Essen habe ich versucht auszumachen, welcher der Insassen fehlte, doch da ohnehin nicht immer alle anwesend sind, konnte ich es nicht mit Gewissheit feststellen. Ich habe gemerkt, dass die Stimmung irgendwie getrübt gewesen war, aber niemand hat etwas gesagt.
Karl kam heute später zum Essen und wurde von einer Wärterin mit dem Rollstuhl an den Tisch geschoben. Ich weiß nicht, was sie mit ihm getan haben, aber sein Zustand hat sich weiter verschlechtert, so sehr sogar, dass die Wärterin ihn füttern musste. Als sie meine Blicke bemerkt hatte, hat sie mich nur angelächelt und mir erzählen wollen, dass er nur einen schlechten Tag habe und das normal sei – eine offensichtliche Lüge.
Die Tage hier fangen immer viel zu früh an und hören genauso früh auf. Ich muss zusehen, ob ich eine Lösung finde, um meinen kleinen Tisch in der Nacht zu beleuchten, damit ich länger schreiben kann. Doch dafür ist heute keine Zeit mehr, also versuche ich mich hinzulegen und in Gedanken bei meiner Margrit zu verweilen. Ich hoffe, sie ist wohlauf und frei.
Tag 12:
Heute habe ich mich den ganzen Tag über seltsam gefühlt. Meine Beine wollen mich nicht richtig tragen, doch meine Verletzung sollte eigentlich abgeklungen sein. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren und diese Zeilen zu schreiben, vielleicht liegt es daran, dass ich nichts mehr esse. Dennoch sollte ich mich jeden Tag daran erinnern, in mein Journal zu schreiben, wenn auch nur aus dem Grund, dass ich so die Tage zählen kann.
Ich gehe schlafen und bete für meine liebe Margrit, dass es ihr gut geht, wo auch immer sie ist.
Tag 13:
Heute habe ich gefrühstückt und hätte am liebsten gleich gekotzt, als ich den selbstgerechten Ausdruck der Wärterin gesehen habe. Ich fragte sie, ob ich eine Zeitung haben könne und sie hat mir, nachdem ich stundenlang gewartet hatte, eine alte Ausgabe des regionalen Blatts gebracht. Darin stand nichts vom Krieg, nicht mit einem Wort wurde die Katastrophe erwähnt, die unsere jüdischen Brüder und Schwestern global dem Verderben übergibt.
Ich fühle mich nicht gut, habe letzte Nacht kaum geschlafen, doch solange Margrit bei mir ist, kann ich alles ertragen.
Tag 15:
Heute war Margrit an meinem Bett. Sie hat geweint und mir gesagt, wie leid es ihr tut, dass sie nicht mehr bei mir sein kann, dass sie diesen Weg nicht mit mir zusammen gehen kann. Ich habe nicht verstanden und wollte, dass sie bleibt, doch das tat sie nicht.
Karl ist nicht zum Essen gekommen und der schwarze Wagen war wieder da. Hier kommt niemand lebend wieder raus.
Tag 16:
Heute war ein Doktor bei mir. Er wollte mir weismachen, ich wäre nicht im Besitz meiner vollen geistigen Kräfte und eine Wärterin hatte ihm erzählt, ich würde halluzinieren. Sie wollen mich brechen, wollen, dass ich dem Wahnsinn verfalle, aber ich werde sie nicht lassen.
Morgen wird Margrit wieder kommen und dann wird alles gut.
Tag 17:
Heute haben sie mich gefesselt, sagen meine Beine wären nicht mehr stark genug, aber das ist nur eine ihrer Lügen. Ich habe die Tabletten gesehen, die sie mir geben, wenn ich schlafe. Sie sind gerissen, tun sie nicht einfach ins Essen.
Margrit war nicht da, aber ich werde geduldig auf sie warten. Das Bild mit dem schwarzen Band soll mich heut Nacht an sie erinnern.
Tag… :
Heute kam ein Mann zu mir, der mir sagte, er wäre mein Enkel. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen und glaube, dass er einer von ihnen ist. Als er sich von mir verabschiedete, hatte er geweint, aber das ist nur eine List. Er will herausfinden wo Isaak hingegangen ist, da bin ich mir sicher. Keine Angst, alter Freund, ich verrate dich nicht.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich schon hier bin, aber das macht nichts. Margrit geht’s gut, sie schläft schon und ich lege mich gleich zu ihr.
Heute haben sie Heinrich auf einer Bahre vor meiner Zelle vorbeigeschoben, ich habe es durch die geöffnete Tür hindurch gesehen. Ein Zuteiler stand wohl am Ende des Ganges und hat ihn in den Ofen geschickt. Ich habe mir gewünscht, sie würden ihn wenigstens anständig beerdigen.
Margrit war nicht da und ich war froh, dass sie das nicht mitansehen musste.
Heute habe ich mich erinnert. Margrit ist gestorben, sie ist nicht mehr bei mir, schon lange nicht mehr. Wann ist das passiert und wie hatte ich das vergessen können? Sind es die Drogen oder bin ich des Wahnsinns?
Dement, dement, dement, dement, dement. Ist alles nur eine Lüge?
Oh liebste Margrit, weshalb hast du mich verlassen? Weshalb hast du mich nicht mit dir genommen?
Heute ist nicht heute, ist nicht heute, ist nicht gestern, nur morgen ist morgen.
Heute kam der Wagen. Wann kommt er für mich?
Heute werde ich Margrit in die Arme schließen. Ich liebe euch.