Ich war gerade mal zwölf Jahre alt gewesen, als ich aus meinem Baumhaus gefallen war und mir dabei beide Beine gebrochen hatte. Doch getrieben von meiner bereits damals legendären Sturheit und verbissen wie ein Rottweiler, der ein frisches Steak bis aufs Blut verteidigt, hatte ich nicht lange gebraucht, bevor ich wieder auf meinen Hochsitz geklettert war und die Aussicht genossen hatte. „Was einen nicht umbringt, macht einen stärker“, hatte meine Mutter zu sagen gepflegt. Ja, die stämmige und rotwangige Hausfrau hatte ihre Aphorismen geliebt, vielleicht gar mehr als meinen Vater, doch am Ende war eine Krankheit dahergekommen, die sie nicht mehr stärker gemacht hatte. Damals, als sie von uns gegangen war, kurz vor meiner Volljährigkeit, hatte ich das erste Mal begriffen, was das Leben wirklich war: eine gigantische Sanduhr, der man nur zusehen und die man niemals umdrehen konnte und bei der man nie so genau wusste, wie viel Sand noch drin war. Und diese (zugegebenermaßen etwas deprimierende) Weltanschauung hatte ich für die nächste Dekade mit mir herumgetragen, mich stets wundernd, was ich alles nicht würde erleben können, was ich verpassen würde… Ihr verseht vermutlich, was ich meine. Ich hatte sie mit derselben Sturheit verteidigt, die ich bei jeder meiner Entscheidungen an den Tag legte und mit der ich mich, ganz unabhängig von meiner aktuellen Lebenseinstellung immer wieder dazu zwang, nach einem Sturz aufzustehen. Aber irgendwann wurde mir die ganze Sache zu blöd, ich entschied mich zum unbezwingbaren Optimismus, veränderte dickköpfig wie eh und je meine ganze Einstellung und meinen Lebenswandel und lernte zugleich meinen Partner kennen, ebenfalls ein unverbesserlicher Optimist.
Doch wie das Leben so spielt (danke für die Redewendung, Mama), sollte auch der überzeugteste Optimismus nicht ewig weilen. Denn genauso, wie der gut erzogene Rottweiler seit Steak spätestens dann fallenlässt, wenn man ihn mit einer zusammengerollten Zeitschrift haut, genauso hätte mir eigentlich klar sein müssen, dass Hochmut vor dem Fall kommt (spätestens jetzt wäre meine Mutter stolz auf mich gewesen). Und nun saß ich wieder in dem vermaledeiten Baumhaus, das mittlerweile, marode wie es war, mehr denn je einer Todesfalle glich und starrte auf den perfekt getrimmten Englischrasen, auf dem unser Dackel zu seinen Lebzeiten bevorzugt sein Geschäft verrichtet hatte. Jetzt war wieder alles genauso wie bei meinem ersten Wandel zum Pessimismus und ein Teil von mir begriff, dass ich mir nur etwas vorgemacht haben musste. Vor ungefähr einer Woche war mein Vater gestorben, ein gefallener Held in der ewigen Schlacht von Mann gegen Lieferwagen. Was wohl meine Mutter für einen Aphorismus dazu auf Lager gehabt hätte? Wahrscheinlich etwas dazu, dass einem das, was man liebt, umbringt; immerhin war es ein Wagen der Post gewesen, der Vater überfahren hatte und sein ganzes Umfeld hatte gewusst, dass er dazu tendierte, sich alles nach Hause liefern zu lassen.
Und jetzt, einen Tag nach der Beerdigung, wollte ich nur einen Blick in das nunmehr verwaiste Einfamilienhaus werfen und (wer hätte es gedacht?) saß nun in dem maroden Baumhaus, dass ich damals mit der Hilfe meines Vaters gezimmert hatte. Immer, wenn mich etwas beschäftigt hatte, hatte ich mich hierhin zurückgezogen, an den einzigen Ort, der ganz allein meiner gewesen war. Es hatte vollkommen ausgereicht, einen mir nahe stehenden Menschen zu verlieren, etwas, das zwingend früher oder später hatte geschehen müssen, um mein Lügengebilde in sich zusammenstürzen zu lassen und mich in mein pessimistisches Alter Ego zurückzuverwandeln. Unwillkürlich entfuhr mir ein trockenes Lachen, das viel zu heiser klang. Wer hätte gedacht, dass ich mich nach all den Jahren noch immer in diesen Adlerhorst flüchten würde und wieder auf die unbedeutende Welt hinuntersah, die sich zu meinen Füssen ausbreitete? Meine Gedanken bewegten sich im Kreis und ich wusste, dass ich früher oder später eine Entscheidung treffen musste.
Nein, ich war in Wirklichkeit keine Optimistin, nur eine verdammt gute Lügnerin, besonders wenn es darum gegangen war, mir selbst ein A für ein O vorzumachen. Und vielleicht landete ich nicht zuletzt auch darum und nicht bloß wegen meiner vermaledeiten Sturheit immer wieder auf den Beinen, sinnierte ich, bevor ich kurz seufzte, vorsichtig nach dem Baumstamm griff und nach unten zu klettern begann. Ich hörte das knackende Geräusch von dem morschen Ast, auf welchem ich stand, doch es war bereits zu spät. Ein kalter Schauer fuhr mir über den Rücken und mein Magen drehte sich um, als ich mich ohne Halt wiederfand. Für einen Augenblick zuckte eines der morbiden Bilder durch meinen Verstand, die ich jahrelang zusammen mit meinem Zynismus zu verdrängen gesucht hatte: Mein Augapfel, an dem einige Krähen knabberten, aufgespießt auf der Spitze einer der in den Rasen gesetzten gusseisernen Laternen. Dann knallte ich mit meinem ganzen Gewicht seitlich auf den Boden und ein heftiger Schmerz fuhr durch meinen linken Arm, begleitet von dem Geräusch, das ein Knochen machte, wenn er brach. Schwer atmend versuchte ich, mich zu konzentrieren und blinzelte eine Träne weg. Ich musste mich unbedingt aufsetzen und an das Handy in der Hosentasche gelangen, denn mit meinem Auto würde ich nicht mehr zur nächsten Klinik fahren können. Beim dritten Anlauf hatte ich Erfolg, vielleicht aber nur, weil ich gleichzeitig wütend zischte: „Scheiß auf den Optimismus!“
Während ich die Nummer wählte und das Telefon zum Ohr hob, fasste ich einen Entschluss: Wenn ich schon keine Frohnatur war und keine Heuchlerin mehr sein wollte, so konnte ich doch bei dem was ich tat meinen Spaß haben. Sobald ich könnte, würde ich das vermaledeite Baumhaus mit einer selbstgebastelten Bombe in tausend Stücke sprengen. Okay, vielleicht würde ich mich dabei auch selbst in Brand setzten; aber ich war nun mal verdammt dickköpfig.