Vier Uhr dreißig. Es ist kalt in der Halle E4 und Emma friert erbärmlich, trotz dem dicken Faserpelzpullover. Es stört sie nicht, genauso wie es sie stört. Seit Jahren fühlt sie sich hoffnungslos. Es ist nicht die Art von Hoffnungslosigkeit, die schmerzvoll schreit, auch nicht die leise, welche stumm und alleine leidet. Emmas Hoffnungslosigkeit ist zu einem unbegehbaren, intrinsischen Teil ihrer selbst gewachsen, sie ist weder versteckt, noch komplett sichtbar. Anders als die ausgestorbene Halle E4 ist Emmas Depression nicht kalt auch nicht warm, sie ist neutral, normal. Sie ist einfach da, eine Präsenz, die langsam, stetig jede Faser ihres Geistes ersetzt.
„So früh schon hier?“, sagt der Mann vom Tupperware-Stand. Seine Statur ist gering, das Haar schütter, aber das Grinsen umso breiter. Emma nickt und grinst tonlos, emotionslos zurück. „Wird ein langer Tag, was?“, verwickelt er sie in ein Gespräch, eines von vielen, die sie nicht führen mochte.
„Naja, gestern gab’s guten Schneefall. Die Leute gehen vielleicht lieber Skifahren, statt auf dem Messegelände rumzuschlendern.“ Ihr ist es einerlei, zumal sie ohnehin hierbleiben muss. Emma weiß, da liegt etwas anderes in ihr vergraben, sie versteht, irgendwo war sie, die Hoffnung. Sie kann wahrnehmen, wie sie von ihr getragen wird, doch scheint sie stets ein winziges Stück aus ihrer Reichweichte, aus ihrem Blickfeld zu liegen. Nie bekommt sie den Glauben in sich zu fassen. Hin und wieder, nein, ständig zwingt sie sich zur Erkenntnis, durch gefühlslosen Intellekt, dass da noch mehr sein musste als diese Leere.
„Ich hoffe nicht, die Ware muss weg, du weißt ja, wie es ist“, schmunzelt der Tupperware-Mann hinter seinem Tupperware-Stand und wirkt fröhlich. Er weiß nicht, wie es um Emma steht, kann es unmöglich ahnen.
„Ach, Ihr Geschäft läuft gut“, erklingt sie heiter, bleibt im Gegensatz zu ihm formell, um Nähe abzuwehren. Emma kennt viele Ablenkungen; Sport, Schreinern, Wandern. Aber die Dinge, die sie zum Lächeln bringen, stellen infrage, weshalb alles, was grandios und brillant ist, nichts berührt außer ihrem abstrakten Verständnis. Emma kennt viele offene Arme; Freunde, Familie, ihre Katze. Aber die Menschen, die sie lieben, die sie so sehr liebt, stellen infrage, weshalb all die Liebe sie nicht heilen kann. „Für Sie wird heute bestimmt ein guter Tag.“
„Selbstverständlich. Jeder Tag ist ein guter Tag“, flötet der Tupperware-Mann in seinem Tupperware-Hemd und meint es ernst. Er weiß nicht, wie es Emma geht, kann es keinesfalls erraten.
„Das ist schön“, erwidert sie und kommt sich vor wie die Betamax-Kassette zu seiner VHS, wie diejenige, die es niemals gänzlich schafft, die im Rennen um Erfolg und Glück stets im Schatten läuft. „Wirklich schön.“ Das Problem mit der Hoffnungslosigkeit ist nicht die Absenz von Hoffnung auf ein besseres Leben; es ist das Fehlen einer Perspektive, die irgendwann, irgendwo Zufriedenheit verspricht. Nicht zu wissen, ob Emmas Gehirn überhaupt je zu wahrer Herzensruhe fähig sein wird. Das Problem mit der Hoffnungslosigkeit ist ebenfalls nicht Angst, Verwüstung oder der schiere Überdruss am Leben; es ist die Apathie, welche der Einsicht folgt, all dies sei ohnehin bedeutungslos. Emma interessiert nichts mehr, ob Schock, Schmerz, Leben oder Tod, sie fühlt keinen Unterschied.
„Ja, das ist es“, meint der Tupperware-Mann mit seinem Tupperware-Hut und bleckt heiter seine Zähne. Er weiß nicht wie es um Emma steht, kann es niemals erspähen. „Sie werden auch viel Kundschaft bekommen“, tönt der Auftakt seines Beifalls, „auf alle Fälle, da bin ich mir sicher. Ihre Ware ist …“ Ein Küsschen fliegt durch die eisige Luft, segelt vor Emma auf den Boden und stirbt.
„Wir werden sehen“, sagt sie, stellt Pfeffermühle um Pfeffermühle in Reih und Glied, baut eine würzige Armee zwischen sich und dem Tupperware-Mann auf. Es gibt Momente, da kann Emma sie sehen, die Hoffnung, die ihre Wurzeln nährt. Sie reflektieret in winzigen Dingen, es ist so einfach, sie zu verpassen. Trotzdem erhellt sie alles, bloß für eine kurze Weile, aber für Emma reicht das aus, um sich daran zu entsinnen; die Hoffnung ist da. Vielleicht, überlegt sie hier und da, ist es ein Puzzle; sammle die Stücke, setzte sie zusammen und baue eine hoffnungsvolle Person. Doch wahrscheinlich gibt es keine Puzzles zu lösen; genieße nur die Echos der kleinen Dinge, wann immer sie auftauchen mögen und halte an ihrer Erinnerung fest. Wie es auch sein mag, Emma hat sich dazu entschieden, dankbar für diese Fragmente der Hoffnung zu sein. Jeden Tag aufs Neue, egal ob sie erscheinen oder sie warten lassen.
„Darf ich Sie etwas fragen?“, flüstert der Tupperware-Mann, die Hände im Tupperware-Schurz und starrt auf seine Schuhe. Er weiß nicht wie es um Emma steht, kann es dennoch wahrnehmen.
„Klar.“ Ihre Unvorsichtigkeit wird sich rächen, hier in der folterkellerkalten Halle E4. „Was denn?“
„Nun, ich befürchte“, stammelt der Tupperware-Mann und lehnt sich auf seinen Tupperware-Stand und stellt dann fest: „Für Sie ist nicht jeder Tag ein guter Tag.“
„Ach“, verschlägt es Emma die Sprache. Irgendwann wird sie zum Jäger werden, einem geübten Weidmann, dessen Scharfsinn sie überall aufspüren kann, die Talismane der Hoffnung. Sie wird ihre Existenz als etwas Erfüllteres als lakonische Hinnahme des Unausweichlichen zu verstehen. Die Zeit für Emma wird kommen, vom Lächeln berührt und der Liebe geheilt zu werden. Sie hofft nicht darauf, selbst der Glaube ist fern, gleicht reiner Absurdität. Die Sturheit in ihrem metaphorischen Herzen allerdings ist real und wird ihren Körper, ihren Geist dazu zwingen, das Unerreichbare zu erreichen. Eines Tages, das steht für Emma fest, wird sie, so hoffnungslos es aussieht, ihre Hoffnung finden. „Wissen Sie, vielleicht nicht heute, womöglich nicht morgen, aber bald, ja, bald werden meine Tage gute Tage sein.“