Ich starre in diese tiefe, alles verschlingende Dunkelheit des mannshohen Abflussrohres, durch das bei jedem Unwetter die Wassermaßen, die das Kanalsystem der sonst so trockenen Stadt fluten würden, weg befördert wurden. Unsere Schritte hallen auf dem noch leicht feuchten Boden und die Lichtkegel unserer Taschenlampen tanzen über den mit Graffiti beschmierten Beton. Jedes Mal, wenn ich eines der gesprayten Gang-Tags sehe, muss ich an Hunde denken, die ihr Revier markieren, das hier ist einfach die für Menschen lesbare Form des Urinierens.
„Scheißloch“, zischt Kruger hinter mir, als er beinahe auf einem durchweichten, pampigen Karton ausgerutscht wäre, den die letzte Überschwemmung hier liegengelassen hat. Vielleicht hat darin mal ein Penner gewohnt, wenn es nicht regnete, hausten viele hier unten, tief unter der Stadt des oberflächlichen Glücks und des Hedonismus. Trautes Heim. Für sie hat sich das Blatt vor langer Zeit gewendet, aber zumindest schaffen es die meisten, rechtzeitig vor dem Regen aus den Abflussrohren zu kriechen.
„Hey, Marsden, ist deine Alte nicht auf einer Gartenschau?“, fragt Kruger und der Angesprochene bejaht grummelnd. Vermutlich wäre er lieber bei seiner Frau und ihren hübschen Blumen und Büschen. Ich kann es ihm nicht verübeln, auch wenn er nicht viel Verständnis dafür aufbrachte, dass man so Unmengen von Trinkwasser für diesen irrationalen Luxus vergeudet. Über uns brennt jetzt sicher die Sonne und taucht den Sündenpfuhl in die übliche unerbittliche Wüstenhitze, während hier unten nur die kalten Strahlen unserer Taschenlampen Licht ins Dunkel bringen. Immerhin sind die Obdachlosen nach dem Regen von gestern noch nicht zurückgekehrt, denke ich und wuchte einen mit Schlamm bespritzen Einkaufswagen zur Seite – eigentlich wäre das der Job der beiden menschlichen Gorillas, die hinter mir gehen. Kruger und Marsden sind wenigstens halbwegs erträgliche Zeitgenossen, die zwar hier und da was sagen, doch die meiste Zeit ihre Klappe halten. Eine seltene Qualität bei Leuten, die um einiges Dümmer sind als ihr Anführer.
„Hey, wir haben deinen Affen gefunden“, ruft Kruger und deutet in einen der abzweigenden Gänge. Ich verkrampfe mich sofort, kann aber zugleich das vorfreudige Kribbeln in der Magengrube fühlen, das für einen Forscher vor seiner großen Entdeckung typisch sein muss. Ich will den Affen unbedingt zurückhaben, schließlich ist er der Patient Null. Ich werde das Schicksal der Menschheit verändern und mein Name wird einen Ehrenplatz in den Geschichtsbüchern finden. Rasch drehe ich mich um, marschiere zu Kruger und kann sofort das verendete Labortier erkennen, über dem mein Begleiter steht. Kruger und Marsden haben keine Ahnung von Viren, Bakterien und Krankheiten, bestenfalls bekommen sie mit, wenn sich die Öffentlichkeit in einer gigantischen und überaus lächerlichen Panik vor Salmonellen in Gammelfleisch fürchtet. Und genau das ist der Grund, dass ich die beiden Wandschränke von Kerlen angeheuert habe, denn meine Lakaien sollen bestenfalls halbwegs begreifen, was ich im Schilde führe. Ihr Job ist es, mir den Rücken freizuhalten und mich gegen Penner, Gangster und was sich sonst noch so alles hier unten verstecken kann, zu beschützen. Langsam beuge ich mich über das tote Tier und mustere es; es ist größtenteils unversehrt, wahrscheinlich in der Flut der letzten Nacht ertrunken. Zugegeben, das Unwetter hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Klar, ich habe vorgesorgt, war aber vom Sturm dermaßen überrascht worden, dass ich das Außengehege nicht rechtzeitig verbarrikadieren konnte und der verdammte Affe hatte abhauen können. Doch das spielt jetzt auch keine Rolle mehr, Patient Null ist zwar ausgebrochen, aber wir haben ihn glücklicherweise hier gefunden.
„Sorry“, murmelt Marsden und schaut mitleidig auf den toten Affen hinunter. Beinahe habe ich laut losgelacht, denn das Vieh hätte sowieso früher oder später das Zeitliche gesegnet, soviel ist klar. Doch ich beherrsche mich und zucke mit den Schultern: „Kreislauf des Lebens.“
„Scheiße Mann, das ist eiskalt“, sagt Kruger leise und erkundigt sich, während ich ein Messer vom Gürtel nehme: „Was willst du eigentlich mit dem Ding?“
„Ich brauche Proben von den wichtigen Organen“, gebe ich zurück und begreife erst nach einem Moment, dass Kruger angewidert das Gesicht verzogen und sich halb abgewendet hat. Wieso mir das ein Gefühl der Genugtuung verleiht, weiß ich auch nicht so genau, aber mir ist in meiner Jugend häufiger gesagt worden, dass ich krank im Kopf sei, damals, als ich noch nicht gelernt habe, mich zu zügeln. Rasch unterdrücke ich den Impuls zu grinsen und ramme das Messer in den weichen, aufgedunsenen Kadaver, ein Skalpell habe ich leider nicht dabei, aber ich würde schon finden, wonach ich suche.
Zufrieden wasche ich meine blutigen Hände in einer Wasserlache, ich habe keinen Grund gesehen, Handschuhe mitzunehmen und in Innereien herumzupulen macht mir Spaß. Marsden war hinzugetreten und starrt nun ungläubig auf die Gefrierbeutel, in die ich sorgfältig einige Organe des Affen verpackt habe. „Fuck, das ist ja krank! Was geht nur in deinem Hirn vor?“
„Hast du als Kind mit Seifenblasen gespielt?“, frage ich lächelnd. Natürlich will ich auf etwas heraus und es gibt nur einen Grund, sich derart kryptisch aufzuführen: Mein Amüsement, während die beiden Kerle mich verwirrt beobachten. Ich fahre fort, ohne auf ihre Antwort zu warten, weil sie sowieso nichts Kluges zu der Unterhaltung beizutragen haben, die ohnehin mehr ein Vortrag ist. „Es ist ganz einfach: Eine Seifenblase ist etwas wunderschönes, sie funkelt im Sonnenlicht, steigt zum Himmel … Dann, mit einem Mal, platzt sie ohne Vorwarnung. Die Sicherheit, in der sich die Leute heutzutage wiegen, ist in dieser Metapher die Blase.“
Kruger fand als erster seine Stimme wieder. „Worauf willst du hinaus?“
„Wir leben in einer wunderbaren Welt, haben Autos, Internet, Supermärkte, kurz: Wir haben unglaublichen Luxus und Sicherheit. Was würdest du meinen, wenn ich dir sage, dass das alles ein Ende haben wird?“
„Komm endlich auf den Punkt, Mann!“, blafft mich Kruger entnervt an. Ich kann es ihm nicht wirklich nachtragen und entscheide mich, ihn nicht länger auf die Folter zu spannen. „Okay, die Sache ist ganz einfach: Ich habe den Affen mit einem Virus infiziert, der sich rasant ausbreitet und hochansteckend ist. Ich habe nicht damit gerechnet, dass er ausbricht, aber das macht nichts, so geht die Sache etwas früher los.“
„Du hast das Ding auf die Stadt losgelassen?“, schreit Marsden aus und macht einige Schritte zurück. „Ich habe gemeint, du arbeitest für die Verwaltung und willst ein tollwütiges Tier einfangen?!“
Ich muss ihnen nicht mehr erklären, dass ich sie angelogen habe und ich hätte jede Wette gemacht, dass sogar die beiden naiven Trottel bald eins und eins zusammengezählt haben werden. Kruger bestätigt meine Theorie unverzüglich: „Moment mal, wenn sich das Zeug so rasant ausbreitet, heißt das, wir sind auch angesteckt?“
Ich zähle innerlich auf drei, bevor ich entgegnete: „Ja.“ Eine kurze dramatische Pause, um die Rhetorik zu verstärken, man gönnt sich ja sonst nichts. „Aber keine Sorge, nicht wegen dem Affen, sondern weil ich den Virus heute früh in den Trinkwasservorräten der Stadt freigesetzt habe. Mittlerweile sollten schon die meisten infiziert sein. Stellt euch nur vor, all die Eltern, die ihre Kinder mit dem allmorgendlichen Hirsebrei zum Tode verurteilt haben; irgendwie lustig.“
Marsdens Augen weiten sich. „Hast du sie noch alle? Wir werden draufgehen!“
„Das ist der Plan, ja“, antworte ich gleichgültig. „Aber keine Angst, ich bin immun und habe das Gegenmittel.“
Kruger hört nicht mehr auf mich und zieht seine Waffe. „Nein“, rufe ich panisch aus, will ihm begreiflich machen, dass ohne mich die ganze Stadt sterben würde, dass ohne mich der ganze Kontinent, ja vielleicht die ganze Erde infiziert werden würde, dass ich der Einzige bin, der eine Pandemie verhindern kann. Doch es ist zu spät. Der Knall ist in dem engen Abflussrohr ohrenbetäubend und es dauert einen Augenblick, bis ich das zerreißende, heiße Gefühl in meiner Magengegend bemerke. Wie ich zusammengesackt und auf meinen Knien gelandet bin, hätte ich beim besten Willen nicht sagen können. Irgendwie schon fast lustig, dass ich in meiner Arroganz nicht daran gedacht habe, dass nicht jeder Mensch logisch handelt. Wie dumm muss man sein, den Einzigen zu töten, der das Gegenmittel zur schlimmsten je gesehenen Pandemie herstellen kann? Beinahe wäre mein Plan gelungen, hätte ich doch nur meine Klappe gehalten und früh genug verstanden, dass Wut und Angst Leute zu den verrücktesten Dingen motivieren kann. Es fällt mir schwer zu sprechen, meine Stimme klingt röchelnd, beinahe gurgelnd und das Atmen fällt mir zusehends schwerer. „Du hast gerade die Menschheit zum Tode verurteilt“, stoße ich hervor. Kruger fixiert mich und ich glaube, die hilflose Rage eines tobsüchtigen Kindes in seinen Augen blitzen zu sehen. „Das glaube ich nicht, es gibt immer irgendwo einen Forscher, der eine Lösung findet!“
Er richtet die Waffe auf meine Stirn, wie verdammt dumm kann denn dieser Kerl nur sein? Ich kneife die Augen nicht zusammen, schaue ihn so durchdringend an, wie es mir in meiner Verfassung noch möglich ist. Die Geschehnisse der letzten Stunden zucken durch meine Erinnerung. Was habe ich falsch gemacht? Ich weiß es, will aber nicht daran denken, es war einfach zu peinlich, zu offensichtlich: Hybris. Doch wenn ich schon abtreten muss und die neue Welt, die ich geschaffen habe, nicht mehr sehen darf, dann wenigstens mit passenden letzten Worten. Es kostet mich unglaubliche Anstrengung und alles, was ich noch zustande bringe, ist ein keuchendes Flüstern, doch ich bin mir sicher, dass die beiden mich hören: „Was bringt es schon, wenn du etwas getan hast, an das sich alle erinnern werden, wenn niemand mehr leben wird, um darüber zu sprechen?“