Hypertopia

Diese Story ist auch als Hörgeschichte erschienen.

Es roch nach Blumen und Honig, vielleicht nach Bienenwachs, als sie ihre Augen zum ersten Mal seit langer, langer Zeit wieder öffnete. Die Zimmerdecke, die aus einer Art geschwungener Metallplatten bestand, und die viel zu weiche Matratze, auf der sie lag, verrieten ihr, dass sie nicht mehr zu Hause, in dem kleinen Reihenhäuschen in Kansas, war. „Wo bin ich?“ Als Sarah sich langsam aufrichtete und den etwas untersetzten Mann sah, der sie freundlich anlächelte, hatte sie ein starkes, schwer auf ihr lastendes Déjà-Vu Erlebnis, das ihr das Bewusstsein zu rauben drohte. „Guten Tag Miss Sarah. Bitte erschrecken sie nicht.“ Es roch nach Blumen und Honig, vielleicht nach Bienenwachs und Sarah schlief wieder ein.

Sie saß, fest in einen elfenbeinfarbenen Bademantel gehüllt, auf einem der drei senfgelben Ohrensessel, die direkt vor der massiven Fensterfront im Wohnzimmer aufgestellt waren, und umklammerte ihre Knie. Der Professor hatte ihr einen Tee gebracht, der ein wenig nach Lakritze schmeckte, und sich danach auf dem Sessel neben ihr niedergelassen. Sie beide starrten durch die frei schwebenden Glasscheiben und blickten aus atemberaubender Höhe auf die Stadt herab. Sarah hatte sich noch immer nicht an den schockierenden Anblick der schmalen, ineinander netzartig verwobenen Himmelshäuser gewöhnt, die sich in den atmosphärischen Wolken verloren und deren Fassaden im unteren Drittel dicht bewachsen waren. Abwesend betrachtete sie das geschäftige Treiben eines gigantischen Gerätes, das sie an einen Gabelstapler erinnerte und das ein traktorähnliches Gefährt vertikal an einem der Häuser hochschob, das Gras mähte und einsammelte. „Daraus gewinnen wir Heu, das wir zur Futterherstellung für die Kakapos benötigen. Wir reichern es danach mit künstlichen Nährstoffen und Vitaminen, die wir aus Tomaten gewinnen, an.“ Der Professor schien ihren verlorenen Blick bemerkt zu haben und wollte offenbar das Gespräch wieder in Gang bringen.
Als sie vor beinahe drei Tagen zum zweiten Mal aufgewacht war, hatte man ihr die Infusionsnadeln aus den Venen gezogen und als die Sedierung nachgelassen hatte, war sie hier hin gebracht worden. Der Professor hatte sie für keinen Augenblick alleine gelassen und hatte ihr geduldig alles erklärt und mit seiner erstaunlich hellen Stimme beruhigend auf sie eingeredet. Sie hatte ihren Körper, im Rahmen einer Freiwilligenversuchsreihe, vor knapp tausendeinhundert Jahren in einer Kryogen-Kammer einfrieren lassen und war nun, im Jahr 3084, wieder zu sich gekommen. Natürlich hatte sich sehr vieles verändert, nicht nur die Welt, sondern auch die Menschen darin; Sarah war nicht nur deutlich grösser und langgliedriger als die Labormitarbeiter die sie bisher gesehen hatte, sie konnte sie auch nicht verstehen, obwohl sie Worte ihrer Muttersprache zu erkennen glaubte. Der Professor hatte ihr erklärt, dass nur noch wenige in der Lage waren, die alte Grammatik zu sprechen, weswegen es sicher sinnvoll sei, wenn sie sich die neue Sprache, die eine Mischung aus Chinesisch, Englisch, Deutsch und Portugiesisch sei, aneignen würde.
„Sie wollen also, dass ich ihnen das glaube, Herr Professor?“ Sarahs Stimme klang brüchig und gedämpft und sie fühlte die Spuren der schier unendlich langen Bewegungslosigkeit in ihrem ganzen Körper, ihren atrophischen Muskeln. „Beinahe die gesamte Menschheit wurde vernichtet und danach habt ihr alles wieder aufgebaut und alle, wirklich restlos alle Probleme gelöst? Und das nur wegen eines Vogels?“ Sie wünschte sich, dass der Professor den bissigen Sarkasmus in ihrer Stimme bemerken und wütend werden würde, aber dieser lächelte sie nur verständnisvoll und gleichmütig an. „Nun, Miss Sarah, nicht wegen irgendeinem Vogel. Dank dem neuseeländischen Kakapo, dem Strigops habroptilus, der zu ihrer Zeit beinahe ausgestorben war, wurde uns das große Glück zuteil, die Menschheit von ihren Schwierigkeiten zu befreien. Aber lassen sie mich erklären.“ Und so begann der Professor, mit einem gelösten Gesichtsausdruck und der Freude eines Kindes in seinen Augen, zu erklären, wie der Kakapo die Welt gerettet hatte.

Wenige Jahre vor dem Zerfall der Zivilisation war es einigen Forschern durch eine versehentliche Genmutation gelungen, den Fortbestand des Kakapos zu sichern, indem er fruchtbarer, physisch resistenter und genügsamer wurde. In den unsäglichen Jahren des letzten großen Krieges vermehrte sich das außerordentlich friedfertige Tier schneller, als es gefressen werden konnte, bis seine Populationsdichte explodierte. Währendem die Anzahl der Menschen immer weiter sank und sich die restlichen Überlebenden blutrünstig bekämpften, begann der neugierige Vogel seine Wanderung und schlussendlich seinen Siegeszug in die ganze Welt. Bald schon hatte er alle Kontinente besiedelt und da er nicht nur freundlich und friedvoll war, sondern durch seinen mutierten Stoffwechsel zudem nur wenig Nahrung benötigte, wurde die jeweils einheimische Flora und Fauna durch die vielen Neuankömmlinge kaum belastet. Im Gegenteil, denn der Kakapo war eine einfache und bekömmliche Beute, für die vielen Wildtiere wie auch für den Menschen, und so gehörte sein proteinreiches, nach Hühnchen und Blütenhonig schmeckendes Fleisch bald zu den Grundnahrungsmitteln. Als die Überlebenden im Jahr 2442 sich darauf geeinigt hatte, Waffenruhe einzuhalten, musste dank des Kakapos kein Mensch mehr Hunger leiden und bald schon hatte man bemerkt, dass seine Exkremente als fantastisches Düngemittel für Pflanzen aller Art benutzt werden können, wodurch die Wälder der Erde rasch aufgeforstet werden konnten. Dies erwies sich als enorm nützlich im Kampf gegen den Klimawandel, welcher ab den 2800er Jahren nur noch eine Erinnerung, eine Randnotiz in Schulbüchern war. Selbst die Schalen seiner Eier erwiesen sich als außerordentlich nützlich, da sie sich wunderbar als organischer Betonersatz eigneten. Zudem, und das war die vielleicht wichtigste Veränderung, die durch das flugunfähige Tier mit dem grünen, weichen Gefieder erreicht werden konnte, verlor der Mensch allmählich seine Aggressivität; es hatte sich nämlich herausgestellt, dass durch den Verzehr des Kakapofleisches die Neurotransmitterzusammensetzung im menschlichen Gehirn gerade genügend manipuliert wurde, um diesem die friedliebenden Eigenschaften des Vogels zu verleihen. Dies führte schlussendlich dazu, dass der Mensch seine Energie, Fähigkeiten, Zeit und seine Motivation ganz und gar dem Wohle und umweltverträglichen Fortschritt der Menschheit widmen konnte. Über die nächsten Jahrhunderte verlor er jegliches Interesse an gesuchten Konflikten und baute eine rational geführte, utilitaristische Gemeinschaft auf, die immer mehr florierte, bis die Weltbevölkerung erneut auf über sieben Milliarden Individuen gewachsen war.

Der Professor räusperte sich eigenartig, setzte sich auf und lehnte sich mit einer ungewöhnlich ernsten Miene zu Sarah. „Miss Sarah, unsere Welt war perfekt, aber seit einigen Jahrzehnten können wir erste Anzeichen des Zerfalls erkennen. Wir haben sogar schon erste religiöse Strukturen vorgefunden, zwar nur im ehemaligen Zentraleuropa, aber beunruhigend ist es dennoch.“ Die Angesprochene blinzelte etwas irritiert und wandte ihren Blick von dem gefiederten rundlichen Tier ab, das selbstverständlich durch das Wohnzimmer lief und sie noch vor einigen Minuten neugierig beäugt hatte. „Wie meinen sie das und wie kommen sie darauf, dass ich ihnen helfen könnte?“ Der Professor zog ein kleines Gerät aus seiner Tasche und projizierte damit ein Dokument in den leeren Raum vor ihnen; es war ihre Doktorarbeit, welche sie vor über tausend Jahren geschrieben hatte. „Sie beschäftigten sich als Historikerin mit dem Kriegsgeschehen ihres Jahrtausends. Wir brauchen ihre Hilfe.“ Sarah zog eine samtige Feder von ihrem Bademantel und konnte noch nicht richtig begreifen, um was sie gebeten wurde, welch große, wahrscheinlich unüberwindbare Aufgabe ihr gestellt wurde. „Okay, ich werde ihnen mein Wissen gerne weitergeben aber Herr Professor, haben Sie sich mal die Frage gestellt, ob es vielleicht nicht der Kakapo war, der die Welt gerettet hatte? Sondern vielmehr die reduzierte Population des Menschen, die es ihnen ermöglichte, Probleme wie den Welthunger und Klimawandel zu lösen und das Konfliktpotential zu minimieren?“ Der Professor räusperte sich und es roch nach Blumen und Honig, vielleicht nach Bienenwachs.

Autorin: Rahel
Setting: Wohnzimmer
Clues: Gabelstapler, Grammatik, Tomate, Heu, Klimawandel
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